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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen ^über

er Norden und der Süden Deutschlands weisen ebenso wie die
nördlichen und südlichen Landschaften Frankreichs einen in der
geographischen Lage begründeten Unterschied auf, den weder die
gemeinsame Geschichte noch die in Deutschland uur teilweise ge¬
schaffne politische Einheit haben verwischen können. Die Natur
hat selbst durch die Bodengestaltung und das Klima merkliche Grenzen zwischen
den Landstrichen gezogen, die auch auf die Bevölkerung nicht ohne Einfluß
geblieben sind. Zwar sind die Bewohner Söhne desselben Stammes, aber
dasselbe Blut wallt verschieden durch die Adern. Die dem Klima angepaßte
Lebensweise hat auch die Stammessitten verändert. Der als Siedler in das
nordöstliche Neuland gewanderte Süddeutsche ist zum Preußen und Pommern
geworden, obwohl die Wiege seines Geschlechts vielleicht in Bayern oder
Schwaben stand. Aber es besteht doch ein tiefer Gegensatz zwischen Deutsch¬
land und Frankreich. Der Norden Frankreichs ist germanisch wie Norditalien
und ist später romanisirt worden, während in Deutschland Norden und Süden
eine einheitlich geschlossene Bevölkerung ausweisen. Die Slawen des Nord-
vstens sind völlig im deutschen Blute aufgegangen, denn außer Litauern, Polen
und Wenden, die sich auch heute noch durch ihre Sprache im Reiche absondern,
giebt es keine nur äußerlich germcinisirten Slawen mehr. Der deutsche Bauer
und der Ritter haben die frühern Überbleibsel der Slawenwelt völlig auf¬
gesogen.

Aber politisch ist der deutsche Süden zerrissen. Die Schweiz und Tirol
gehören fremden Staaten an, die mit dem Deutschen Reiche nichts zu schaffen
haben. Die Schweiz ist sogar ganz offen deutschfeindlich gesinnt. Demgegen¬
über berührte der Ausspruch eines klerikalen Tirolers umso angenehmer: "Es
giebt keine Tiroler, keine Bayern, nur Deutsche." Dieses Wunder, wie selbst¬
verständlich es auch vom nationalen Standpunkt aus erscheint, hat Graf
Vaterl in dem Lande der stärksten Priesterherrschaft vollbracht, wo der
vaterlandslvse Klerus jederzeit die Kirche über das angestammte Volkstum
gesetzt hat.

Der deutsche Süden führt noch immer ein Sonderleben. Das stete Hervor¬
heben der eignen Stammesart und das zähe Festhalten daran sind Zeichen




politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen ^über

er Norden und der Süden Deutschlands weisen ebenso wie die
nördlichen und südlichen Landschaften Frankreichs einen in der
geographischen Lage begründeten Unterschied auf, den weder die
gemeinsame Geschichte noch die in Deutschland uur teilweise ge¬
schaffne politische Einheit haben verwischen können. Die Natur
hat selbst durch die Bodengestaltung und das Klima merkliche Grenzen zwischen
den Landstrichen gezogen, die auch auf die Bevölkerung nicht ohne Einfluß
geblieben sind. Zwar sind die Bewohner Söhne desselben Stammes, aber
dasselbe Blut wallt verschieden durch die Adern. Die dem Klima angepaßte
Lebensweise hat auch die Stammessitten verändert. Der als Siedler in das
nordöstliche Neuland gewanderte Süddeutsche ist zum Preußen und Pommern
geworden, obwohl die Wiege seines Geschlechts vielleicht in Bayern oder
Schwaben stand. Aber es besteht doch ein tiefer Gegensatz zwischen Deutsch¬
land und Frankreich. Der Norden Frankreichs ist germanisch wie Norditalien
und ist später romanisirt worden, während in Deutschland Norden und Süden
eine einheitlich geschlossene Bevölkerung ausweisen. Die Slawen des Nord-
vstens sind völlig im deutschen Blute aufgegangen, denn außer Litauern, Polen
und Wenden, die sich auch heute noch durch ihre Sprache im Reiche absondern,
giebt es keine nur äußerlich germcinisirten Slawen mehr. Der deutsche Bauer
und der Ritter haben die frühern Überbleibsel der Slawenwelt völlig auf¬
gesogen.

Aber politisch ist der deutsche Süden zerrissen. Die Schweiz und Tirol
gehören fremden Staaten an, die mit dem Deutschen Reiche nichts zu schaffen
haben. Die Schweiz ist sogar ganz offen deutschfeindlich gesinnt. Demgegen¬
über berührte der Ausspruch eines klerikalen Tirolers umso angenehmer: „Es
giebt keine Tiroler, keine Bayern, nur Deutsche." Dieses Wunder, wie selbst¬
verständlich es auch vom nationalen Standpunkt aus erscheint, hat Graf
Vaterl in dem Lande der stärksten Priesterherrschaft vollbracht, wo der
vaterlandslvse Klerus jederzeit die Kirche über das angestammte Volkstum
gesetzt hat.

Der deutsche Süden führt noch immer ein Sonderleben. Das stete Hervor¬
heben der eignen Stammesart und das zähe Festhalten daran sind Zeichen


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[0517] [Abbildung] politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen ^über er Norden und der Süden Deutschlands weisen ebenso wie die nördlichen und südlichen Landschaften Frankreichs einen in der geographischen Lage begründeten Unterschied auf, den weder die gemeinsame Geschichte noch die in Deutschland uur teilweise ge¬ schaffne politische Einheit haben verwischen können. Die Natur hat selbst durch die Bodengestaltung und das Klima merkliche Grenzen zwischen den Landstrichen gezogen, die auch auf die Bevölkerung nicht ohne Einfluß geblieben sind. Zwar sind die Bewohner Söhne desselben Stammes, aber dasselbe Blut wallt verschieden durch die Adern. Die dem Klima angepaßte Lebensweise hat auch die Stammessitten verändert. Der als Siedler in das nordöstliche Neuland gewanderte Süddeutsche ist zum Preußen und Pommern geworden, obwohl die Wiege seines Geschlechts vielleicht in Bayern oder Schwaben stand. Aber es besteht doch ein tiefer Gegensatz zwischen Deutsch¬ land und Frankreich. Der Norden Frankreichs ist germanisch wie Norditalien und ist später romanisirt worden, während in Deutschland Norden und Süden eine einheitlich geschlossene Bevölkerung ausweisen. Die Slawen des Nord- vstens sind völlig im deutschen Blute aufgegangen, denn außer Litauern, Polen und Wenden, die sich auch heute noch durch ihre Sprache im Reiche absondern, giebt es keine nur äußerlich germcinisirten Slawen mehr. Der deutsche Bauer und der Ritter haben die frühern Überbleibsel der Slawenwelt völlig auf¬ gesogen. Aber politisch ist der deutsche Süden zerrissen. Die Schweiz und Tirol gehören fremden Staaten an, die mit dem Deutschen Reiche nichts zu schaffen haben. Die Schweiz ist sogar ganz offen deutschfeindlich gesinnt. Demgegen¬ über berührte der Ausspruch eines klerikalen Tirolers umso angenehmer: „Es giebt keine Tiroler, keine Bayern, nur Deutsche." Dieses Wunder, wie selbst¬ verständlich es auch vom nationalen Standpunkt aus erscheint, hat Graf Vaterl in dem Lande der stärksten Priesterherrschaft vollbracht, wo der vaterlandslvse Klerus jederzeit die Kirche über das angestammte Volkstum gesetzt hat. Der deutsche Süden führt noch immer ein Sonderleben. Das stete Hervor¬ heben der eignen Stammesart und das zähe Festhalten daran sind Zeichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/517>, abgerufen am 12.12.2024.