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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Spuren im Schnee
Sophus Bauditz Line Ivinternovelle von
Autorisirte Übersetzung von Mathilde Mann
1

n dichten Massen siel der Schnee um Nachmittag vom Himmel
herunter, eine ausgefranste Flocke jagte die andre, als gälte es, zuerst
hinab zu gelangen, und noch ehe völlige Dunkelheit eintrat, war
Kopenhagen eine weiße Stadt.

Am Abend nahm der Sturm zu, um Mitternacht war er zu
einem halben Orkan herangewachsen -- und das Schneegestöber
wurde dichter nud dichter. Hohe Schanzen mit scharfen Rändern lagen quer über
der Straße, von den Dächern fegte der meiste Staub herab, und wenn ein Wind¬
stoß um die Ecke gefahren kam, klirrte das Glas in den Gaslaternen, als zersplittre
es in tausend Scherben, und die Barbierbecken flogen horizontal in die Höhe und
jammerten kläglich an ihren Angeln.

Der Premierleutnnnt in der königlichen Leibgarde, Henrik Hog, kehrte kurz
nach Mitternacht von einem kleinen Gelage heim, das einige seiner Kameraden ihm
zu Ehren aus Anlaß einer zehntägigen Urlaubsreife veranstaltet hatten, die er um
andern Tage nach Jütland antreten wollte, um seine alte Tante, die Kammerherrin
auf Seilstrup zu besuchen.

Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft gewesen und war allmählich von
Dienstangelegenheiten und Personalien dazu übergegangen, alles Mögliche zwischen
Himmel und Erde abzuhandeln. Schließlich hatte man litterarische Fragen erörtert,
und bei dieser Gelegenheit hatte einer der Kameraden seine Verwunderung darüber
geäußert, daß heutzutage die Novelleudichtung im Vergleich zum Roman eine ver¬
hältnismäßig so geringe Rolle spiele. Hierauf hatte dann ein andrer bemerkt, daß
die Novelle mit ihrer schnell fortschreitenden Handlung, wo das eine Ereignis in
das andre eingreift wie die Glieder einer Kette, und wo die Figuren mehr um
der Handlung willen da sind als umgekehrt, günz natürlich besser im Süden ge¬
deihe als im Norden, während auf der andern Seite die nordischen und die ger¬
manischen Völker ihre Stärke in der Vertiefung des Charakters hätte", wie sie der
Roman erlaube. Das hatte man -- bis zu einem gewissen Grade -- zugegeben,
aber ein dritter, der weniger ästhetisch und mehr praktisch veranlagt war, sagte,
über das mit dem Süden und dein Norden "volle er sich nicht weiter äußern,


Grenzboten IV 1898 54


Spuren im Schnee
Sophus Bauditz Line Ivinternovelle von
Autorisirte Übersetzung von Mathilde Mann
1

n dichten Massen siel der Schnee um Nachmittag vom Himmel
herunter, eine ausgefranste Flocke jagte die andre, als gälte es, zuerst
hinab zu gelangen, und noch ehe völlige Dunkelheit eintrat, war
Kopenhagen eine weiße Stadt.

Am Abend nahm der Sturm zu, um Mitternacht war er zu
einem halben Orkan herangewachsen — und das Schneegestöber
wurde dichter nud dichter. Hohe Schanzen mit scharfen Rändern lagen quer über
der Straße, von den Dächern fegte der meiste Staub herab, und wenn ein Wind¬
stoß um die Ecke gefahren kam, klirrte das Glas in den Gaslaternen, als zersplittre
es in tausend Scherben, und die Barbierbecken flogen horizontal in die Höhe und
jammerten kläglich an ihren Angeln.

Der Premierleutnnnt in der königlichen Leibgarde, Henrik Hog, kehrte kurz
nach Mitternacht von einem kleinen Gelage heim, das einige seiner Kameraden ihm
zu Ehren aus Anlaß einer zehntägigen Urlaubsreife veranstaltet hatten, die er um
andern Tage nach Jütland antreten wollte, um seine alte Tante, die Kammerherrin
auf Seilstrup zu besuchen.

Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft gewesen und war allmählich von
Dienstangelegenheiten und Personalien dazu übergegangen, alles Mögliche zwischen
Himmel und Erde abzuhandeln. Schließlich hatte man litterarische Fragen erörtert,
und bei dieser Gelegenheit hatte einer der Kameraden seine Verwunderung darüber
geäußert, daß heutzutage die Novelleudichtung im Vergleich zum Roman eine ver¬
hältnismäßig so geringe Rolle spiele. Hierauf hatte dann ein andrer bemerkt, daß
die Novelle mit ihrer schnell fortschreitenden Handlung, wo das eine Ereignis in
das andre eingreift wie die Glieder einer Kette, und wo die Figuren mehr um
der Handlung willen da sind als umgekehrt, günz natürlich besser im Süden ge¬
deihe als im Norden, während auf der andern Seite die nordischen und die ger¬
manischen Völker ihre Stärke in der Vertiefung des Charakters hätte», wie sie der
Roman erlaube. Das hatte man — bis zu einem gewissen Grade — zugegeben,
aber ein dritter, der weniger ästhetisch und mehr praktisch veranlagt war, sagte,
über das mit dem Süden und dein Norden »volle er sich nicht weiter äußern,


Grenzboten IV 1898 54
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/436>, abgerufen am 24.07.2024.