Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Litteratur klagte Scherenberg vor etwa fünfzig Jahren, als er den Bahnzug mit einem Litteratur Der Werdegang des deutschen Volkes. Historische Richtlinien für gebildete Leser von Otto Kaemmel, Zweiter Teil: Die Neuzeit. Leipzig, Fr. Will). Grunow, IM" In diesem zweiten Teil des verdienstvollen Werkes entfaltet sich die War¬ Litteratur klagte Scherenberg vor etwa fünfzig Jahren, als er den Bahnzug mit einem Litteratur Der Werdegang des deutschen Volkes. Historische Richtlinien für gebildete Leser von Otto Kaemmel, Zweiter Teil: Die Neuzeit. Leipzig, Fr. Will). Grunow, IM» In diesem zweiten Teil des verdienstvollen Werkes entfaltet sich die War¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228356"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <lg xml:id="POEMID_2" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_139"> klagte Scherenberg vor etwa fünfzig Jahren, als er den Bahnzug mit einem<lb/> schnellen Leichenzuge verglich. Um das Posthorn ist es in Wahrheit schade. Es<lb/> rief so lustig alle Mädchen an die Fenster und setzte alle Gassenbuben in Trab,<lb/> und der Reisende, der einen engen Ecksitz erobert hatte und dafür dem Neben¬<lb/> manne als Kopfpolster dienen mußte, ließ sich doch lieber durch das schmetternde<lb/> Horn wecken als durch den vielfältigen Bahn- und Bahnhofslärm. Der künstlerische<lb/> Ehrgeiz der Postillone wurde gelegentlich durch Verleihung silberner Trompeten<lb/> aufgestachelt, und wenn sich der Postknecht im Liede auch einen „armen Wicht"<lb/> nannte, klagte er doch nicht „gleich eines Glöckleins bangem Ton" wie seine<lb/> russischen und südslawischen Genossen, sondern blies lustige Stücklein. So leicht<lb/> und schnell und wohlfeil konnte man damals freilich nicht reisen, doch hatte man<lb/> mehr Genuß von der Landschaft, von Dörfern und Städten, hatte noch nicht solche<lb/> Eile und Ruhelosigkeit und wußte vou der Reise von Meinet noch Danzig (wie<lb/> Hermes) oder nach Braunschweig (wie Knigge) viel mehr zu erzählen, als heute<lb/> mancher von Berlin zum Nordkap oder nach Palermo.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Litteratur</head><lb/> <div n="2"> <head> Der Werdegang des deutschen Volkes. Historische Richtlinien für gebildete Leser von<lb/> Otto Kaemmel, Zweiter Teil: Die Neuzeit. Leipzig, Fr. Will). Grunow, IM»</head><lb/> <p xml:id="ID_140" next="#ID_141"> In diesem zweiten Teil des verdienstvollen Werkes entfaltet sich die War¬<lb/> st ellungskunst des Verfassers noch glänzender als im ersten (siehe deu vierten Band<lb/> des Jahrgangs 1896 S. 341). Es gelingt ihm, die Verkettung der politischen<lb/> Ereignisse mit den wirtschaftlichen Umwälzungen, den technischen Fortschritten, den<lb/> wissenschaftlichen, ästhetischen, religiösen Strömungen so Aar zu machen, daß man<lb/> deutlich sieht, wie jeder spätere Zustand aus dem vorhergehenden entspringt.<lb/> Meisterlich sind namentlich die bei aller Kürze für Leser, die keine fachwissen-<lb/> schnstlichen Zwecke verfolgen, den Gegenstand erschöpfenden Abschnitte über die<lb/> Wandlungen der Kriegführung und über die den modernen Staat schaffenden<lb/> Reformen der Verwaltung, namentlich in Brandenburg-Preußen. Als Probe davon,<lb/> wie sicher Kacmmel den Kern der Dinge erfaßt, mag die Seite 3S1 dienen, wo er<lb/> aus der Bewegung von 1848 das Facit zieht: „In Entwürdigung nud Schmach,<lb/> in tiefer Verbitterung und fressenden Groll ging dieser stürmische Anlauf nach<lb/> Deutschlands Einheit zu Ende. Aber die Erfahrung blieb unverloren, daß er ein<lb/> drei Klippen gescheitert war. Zunächst hatten sich die vorwärts drängenden Kräfte<lb/> im Volke nicht mit den beharrenden der Regierenden auf einer gemeinsamen Grund¬<lb/> lage zusammengefunden, vornehmlich, weil ein Todfeind des deutschen Volkes, der<lb/> Doktrinarismus, sie auseinander gehalten hatte, ans der einen Seite der konservativ-<lb/> romantische, der das Recht des geschichtlichen Lebens verkannte, ans der andern der<lb/> liberale und radikale, der den monarchischen Charakter der politischen Entwicklung<lb/> Deutschlands verkannte. Sodnnn hatte das Preußische Königtum, obwohl durch die<lb/> Natur der Dinge zur Leitung berufen, die Kraft nicht gefunden, diese rechtzeitig</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
Litteratur
klagte Scherenberg vor etwa fünfzig Jahren, als er den Bahnzug mit einem
schnellen Leichenzuge verglich. Um das Posthorn ist es in Wahrheit schade. Es
rief so lustig alle Mädchen an die Fenster und setzte alle Gassenbuben in Trab,
und der Reisende, der einen engen Ecksitz erobert hatte und dafür dem Neben¬
manne als Kopfpolster dienen mußte, ließ sich doch lieber durch das schmetternde
Horn wecken als durch den vielfältigen Bahn- und Bahnhofslärm. Der künstlerische
Ehrgeiz der Postillone wurde gelegentlich durch Verleihung silberner Trompeten
aufgestachelt, und wenn sich der Postknecht im Liede auch einen „armen Wicht"
nannte, klagte er doch nicht „gleich eines Glöckleins bangem Ton" wie seine
russischen und südslawischen Genossen, sondern blies lustige Stücklein. So leicht
und schnell und wohlfeil konnte man damals freilich nicht reisen, doch hatte man
mehr Genuß von der Landschaft, von Dörfern und Städten, hatte noch nicht solche
Eile und Ruhelosigkeit und wußte vou der Reise von Meinet noch Danzig (wie
Hermes) oder nach Braunschweig (wie Knigge) viel mehr zu erzählen, als heute
mancher von Berlin zum Nordkap oder nach Palermo.
Litteratur
Der Werdegang des deutschen Volkes. Historische Richtlinien für gebildete Leser von
Otto Kaemmel, Zweiter Teil: Die Neuzeit. Leipzig, Fr. Will). Grunow, IM»
In diesem zweiten Teil des verdienstvollen Werkes entfaltet sich die War¬
st ellungskunst des Verfassers noch glänzender als im ersten (siehe deu vierten Band
des Jahrgangs 1896 S. 341). Es gelingt ihm, die Verkettung der politischen
Ereignisse mit den wirtschaftlichen Umwälzungen, den technischen Fortschritten, den
wissenschaftlichen, ästhetischen, religiösen Strömungen so Aar zu machen, daß man
deutlich sieht, wie jeder spätere Zustand aus dem vorhergehenden entspringt.
Meisterlich sind namentlich die bei aller Kürze für Leser, die keine fachwissen-
schnstlichen Zwecke verfolgen, den Gegenstand erschöpfenden Abschnitte über die
Wandlungen der Kriegführung und über die den modernen Staat schaffenden
Reformen der Verwaltung, namentlich in Brandenburg-Preußen. Als Probe davon,
wie sicher Kacmmel den Kern der Dinge erfaßt, mag die Seite 3S1 dienen, wo er
aus der Bewegung von 1848 das Facit zieht: „In Entwürdigung nud Schmach,
in tiefer Verbitterung und fressenden Groll ging dieser stürmische Anlauf nach
Deutschlands Einheit zu Ende. Aber die Erfahrung blieb unverloren, daß er ein
drei Klippen gescheitert war. Zunächst hatten sich die vorwärts drängenden Kräfte
im Volke nicht mit den beharrenden der Regierenden auf einer gemeinsamen Grund¬
lage zusammengefunden, vornehmlich, weil ein Todfeind des deutschen Volkes, der
Doktrinarismus, sie auseinander gehalten hatte, ans der einen Seite der konservativ-
romantische, der das Recht des geschichtlichen Lebens verkannte, ans der andern der
liberale und radikale, der den monarchischen Charakter der politischen Entwicklung
Deutschlands verkannte. Sodnnn hatte das Preußische Königtum, obwohl durch die
Natur der Dinge zur Leitung berufen, die Kraft nicht gefunden, diese rechtzeitig
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