Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Litteratur Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik von Georg Freiherrn von Hertling. Freiburg i, B., Heroersche Aerlagshcmdlung, 1897 Der Verfasser behandelt die großen Zeitfragen so, wie man es von einem Litteratur Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik von Georg Freiherrn von Hertling. Freiburg i, B., Heroersche Aerlagshcmdlung, 1897 Der Verfasser behandelt die großen Zeitfragen so, wie man es von einem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228453"/> </div> <div n="1"> <head> Litteratur</head><lb/> <div n="2"> <head> Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik von Georg Freiherrn von Hertling.<lb/> Freiburg i, B., Heroersche Aerlagshcmdlung, 1897</head><lb/> <p xml:id="ID_470" next="#ID_471"> Der Verfasser behandelt die großen Zeitfragen so, wie man es von einem<lb/> philosophisch gebildeten, dabei weltmännischen und sprachgewandten Katholiken von<lb/> gemäßigter und humaner Gesinnung erwartet. Über unheimliche Abgründe, wie<lb/> das Freiheitsproblem, versteht er elegant Hinwegzugleiten. Vielen seiner Ausfüh-<lb/> rungen wird jeder evangelische Christ beistimmen, so z. B. dem, was er über die<lb/> Gleichheit sagt. Selbstverständlich müßten viele und große Ungleichheiten bestehen<lb/> bleiben; wenn nun aber gefragt werde, welche Ungleichheiten das Recht bestehen<lb/> lassen und welche es beseitigen solle, so sei der feste Punkt, von dem man auszu¬<lb/> gehen habe, die Persönlichkeit. „Hier giebt es schlechterdings keinen Unterschied.<lb/> Hieraus aber folgt, daß allen gleichmäßig der unveräußerliche Anspruch auf das¬<lb/> jenige zukommt, Was zur Erreichung des Endzwecks absolut unentbehrlich ist. Alle<lb/> haben das gleiche Recht auf Leben und Gesundheit und freie Lebensgestaltung.<lb/> Für diese letztere giebt es keine Schranke als das allgemeine Sittengesetz und die<lb/> allgemeine Rechtsordnung. Jede darüber hinausgehende Beschränkung, jede Ver¬<lb/> kümmerung der Berufsfreiheit, jedes Ausschließen einer Gruppe oder Klasse der<lb/> Bevölkerung von der Möglichkeit, die gottverliehenen Kräfte allseitig und voll¬<lb/> ständig zu entwickeln, ist verwerflich. So lange noch irgendwo der wirtschaftlich<lb/> unselbständige Lohnarbeiter dnrch die Not des Lebens gezwungen ist, gesundheits¬<lb/> schädliche Arbeit ohne wirksame Schutzmaßregeln vorzunehmen, wenn er durch<lb/> Sonntngsarbeit an der Bethätigung seines religiösen Lebens gehindert ist, wenn<lb/> die Ausbeutung der Arbeitskraft vou Frau und Kindern die Familie zerreißt und<lb/> ein Physisch und moralisch depravirtcs Geschlecht heranwachsen läßt, so fehlt sicher¬<lb/> lich noch viel daran, daß das berechtigte Verlangen nach Gleichheit befriedigt<lb/> wäre" (S. 33 bis 34). Sehr verdienstlich finden wir Hertlings Kampf für<lb/> Naturrecht, natürliche Moral und natürliche Religion gegen jene historische Schule,<lb/> die unveränderliche sittliche, religiöse und Rechtsideen nicht anerkennt und auf alleu<lb/> Gebieten uur das „positive" gelten läßt, die wenigstens unbewußt in der materia¬<lb/> listischen Entwicklungslehre wurzelt und deren Konsequenz die Auflösung alles Rechts<lb/> in Gewalt ist. Es giebt Ansichten, die man schlechterdings nicht verstehen kann, wenn<lb/> man sich nicht in die Empfindung dessen, der sie sagt, zu versetzen vermag; dazu<lb/> gehört die Ansicht der gläubigen Katholiken, daß der Papst „ein Gefangner in<lb/> seinem Paläste" sei, und doppelt unverständlich ist es uns, wie ein Mann von<lb/> Hertlings Bildung sie teilen kann (S. 408.) Leider nicht ganz so unverständlich<lb/> sind freilich Hertlings Znknnftshoffnnngen in Beziehung ans die italienischen An¬<lb/> gelegenheiten. Sein Satz, daß eine Minderheit das Königreich Italien gemacht<lb/> habe und nur eine Minderheit seinen Fortbestand in der heutigen Form wolle,<lb/> ist ebenso unanfechtbar wie seine Schilderung der elenden Zustände des heutigen<lb/> Italiens; die Möglichkeit ist daher nicht ausgeschlossen, daß die ultrnmontanen<lb/> Hoffnungen wenigstens in ihrem negativen Teile in Erfüllung gehen, daß das neue<lb/> Königreich eine gründliche Umwälzung erleidet. Daß dabei eine Wiederherstellung<lb/> des Kirchenstaates in noch so kleinem Umfange herauskommen könne, glauben wir<lb/> nun allerdings nicht. Ganz plausibel klingt es dann wieder, wenn ausgeführt<lb/> wird, daß Deutschland und Österreich ein Interesse daran hätten, in ihrem fieber¬<lb/> kranken Dreibuudbruder das monarchische und konservative Element zu stärken;<lb/> nur fragt es sich, ob uicht die Regierungen von Deutschland und Österreich gerade<lb/> in deu alten Revolutionären von Crispis Schlage das der heutigen Augenblicks-<lb/> pvlitik genügende oder Wohl gar mustergiltige konservative und monarchische Element</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0151]
Litteratur
Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik von Georg Freiherrn von Hertling.
Freiburg i, B., Heroersche Aerlagshcmdlung, 1897
Der Verfasser behandelt die großen Zeitfragen so, wie man es von einem
philosophisch gebildeten, dabei weltmännischen und sprachgewandten Katholiken von
gemäßigter und humaner Gesinnung erwartet. Über unheimliche Abgründe, wie
das Freiheitsproblem, versteht er elegant Hinwegzugleiten. Vielen seiner Ausfüh-
rungen wird jeder evangelische Christ beistimmen, so z. B. dem, was er über die
Gleichheit sagt. Selbstverständlich müßten viele und große Ungleichheiten bestehen
bleiben; wenn nun aber gefragt werde, welche Ungleichheiten das Recht bestehen
lassen und welche es beseitigen solle, so sei der feste Punkt, von dem man auszu¬
gehen habe, die Persönlichkeit. „Hier giebt es schlechterdings keinen Unterschied.
Hieraus aber folgt, daß allen gleichmäßig der unveräußerliche Anspruch auf das¬
jenige zukommt, Was zur Erreichung des Endzwecks absolut unentbehrlich ist. Alle
haben das gleiche Recht auf Leben und Gesundheit und freie Lebensgestaltung.
Für diese letztere giebt es keine Schranke als das allgemeine Sittengesetz und die
allgemeine Rechtsordnung. Jede darüber hinausgehende Beschränkung, jede Ver¬
kümmerung der Berufsfreiheit, jedes Ausschließen einer Gruppe oder Klasse der
Bevölkerung von der Möglichkeit, die gottverliehenen Kräfte allseitig und voll¬
ständig zu entwickeln, ist verwerflich. So lange noch irgendwo der wirtschaftlich
unselbständige Lohnarbeiter dnrch die Not des Lebens gezwungen ist, gesundheits¬
schädliche Arbeit ohne wirksame Schutzmaßregeln vorzunehmen, wenn er durch
Sonntngsarbeit an der Bethätigung seines religiösen Lebens gehindert ist, wenn
die Ausbeutung der Arbeitskraft vou Frau und Kindern die Familie zerreißt und
ein Physisch und moralisch depravirtcs Geschlecht heranwachsen läßt, so fehlt sicher¬
lich noch viel daran, daß das berechtigte Verlangen nach Gleichheit befriedigt
wäre" (S. 33 bis 34). Sehr verdienstlich finden wir Hertlings Kampf für
Naturrecht, natürliche Moral und natürliche Religion gegen jene historische Schule,
die unveränderliche sittliche, religiöse und Rechtsideen nicht anerkennt und auf alleu
Gebieten uur das „positive" gelten läßt, die wenigstens unbewußt in der materia¬
listischen Entwicklungslehre wurzelt und deren Konsequenz die Auflösung alles Rechts
in Gewalt ist. Es giebt Ansichten, die man schlechterdings nicht verstehen kann, wenn
man sich nicht in die Empfindung dessen, der sie sagt, zu versetzen vermag; dazu
gehört die Ansicht der gläubigen Katholiken, daß der Papst „ein Gefangner in
seinem Paläste" sei, und doppelt unverständlich ist es uns, wie ein Mann von
Hertlings Bildung sie teilen kann (S. 408.) Leider nicht ganz so unverständlich
sind freilich Hertlings Znknnftshoffnnngen in Beziehung ans die italienischen An¬
gelegenheiten. Sein Satz, daß eine Minderheit das Königreich Italien gemacht
habe und nur eine Minderheit seinen Fortbestand in der heutigen Form wolle,
ist ebenso unanfechtbar wie seine Schilderung der elenden Zustände des heutigen
Italiens; die Möglichkeit ist daher nicht ausgeschlossen, daß die ultrnmontanen
Hoffnungen wenigstens in ihrem negativen Teile in Erfüllung gehen, daß das neue
Königreich eine gründliche Umwälzung erleidet. Daß dabei eine Wiederherstellung
des Kirchenstaates in noch so kleinem Umfange herauskommen könne, glauben wir
nun allerdings nicht. Ganz plausibel klingt es dann wieder, wenn ausgeführt
wird, daß Deutschland und Österreich ein Interesse daran hätten, in ihrem fieber¬
kranken Dreibuudbruder das monarchische und konservative Element zu stärken;
nur fragt es sich, ob uicht die Regierungen von Deutschland und Österreich gerade
in deu alten Revolutionären von Crispis Schlage das der heutigen Augenblicks-
pvlitik genügende oder Wohl gar mustergiltige konservative und monarchische Element
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