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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

mir daß gewisse Ursachen, an die man nicht gern denkt, nur flüchtig gestreift
werden, und daß die Einsicht in den organischen Zusammenhang aller dieser Ursachen
zu fehlen scheint. Schulunterricht und Militär versäumt mau nirgends unter den
Ursachen anzuführen. Vom Lohne wird freilich behauptet, er sei, die Naturalien
eingerechnet, sogar höher als in der Industrie. Ob das der Fall ist, mögen solche
Mitarbeiter entscheiden, denen die neusten statistischen Hilfsmittel zur Verfügung
stehen. Im Jafalle wird die Besserung zu spät gekommen sein; im Jahre 1393
Waren die Löhne in Oberschlesien noch erbärmlich und wirklich unzureichend, wie
ich in den Aufsätzen über die Landarbeiter im vierten Bande des genannten Jahr¬
gangs S. 356 auf Grund gewissenhafter persönlicher Erkundigungen dargelegt
habe. Außerdem ist in Schlesien, auf den Rittergütern wenigstens, bei den Tage¬
löhnern von Naturalien gar keine Rede; nicht einmal ein Stück Brot oder einen
Trunk bekommen die Leute außer ihrer Mark Tagelohn. (Zufällig erfahre ich, daß
der Arbeitermangel jetzt auch die Dominien nötigt, zur Mark Geld noch die Kost
hinzuzugeben.) Wenn in den Provinzen, wo die Einrichtung der Jnstleute noch
besteht, darüber geklagt wird, daß die Leute selbst darnach strebten, die letzten Reste
des Naturallvhns in Geld umzuwandeln, so mag das richtig sein; gewiß ist aber,
daß es die Rittergutsbesitzer sind, die den Umwandlungsprozeß eingeleitet haben
in einer Zeit, wo er ihnen bei hohen Getreidepreisen vorteilhaft schien. Die Herren
von der Negierung mögen sich sperren und sträuben, so lange sie wollen, schließlich
werden sie gezwungen sein, die Nichtigkeit dessen anzuerkennen, was ich an ver¬
schiednen Orten über die Frage gesagt habe; sehr kräftig u. a. im zweiten der
Aufsätze über die Landarbeiterfrage S. 401 des vierten Bandes des Jahrgangs
L. I- 1393 der Grenzboten.


Die Freiheit der Berufswahl. Philipp Lotmar,

Professor der Rechte
an der Universität Bern, hat am 4. Dezember vorigen Jahres über die Freiheit
der Berufswahl eine Rektoratsrede gehalten (bei Duncker und Humblot in Leipzig
jetzt im Druck erschienen), die nachweist, daß die Beseitigung der gesetzlichen Schranken
der Berufswahlfreiheit vor der Hand nicht viel nutzt, da die sozialen Schranken
mindestens ebenso stark, wo nicht noch stärker hindern, als ehedem die gesetzlichen
gehindert haben. Im Gegensatz zu Ammon und seiner Schule schreibt er: "Gewiß
ist, daß die durch ökonomischen und sozialen Druck erzwungne Hingabe an einen
Beruf nicht bloß das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigt, bei dem der Zwie¬
spalt von Sein und Thun zum Leiden wird, sondern auch das Ganze in Mitleiden¬
schaft zieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden dadurch der Gesellschaft Kräfte
vorenthalten, die zu ihrem Vorteil gewirkt haben würden. Dies wird immer noch
von manchen mit der unerwiesenen und unerweislichen Annahme bestritten, daß
Talente nicht zu ersticken seien, daß jedes Genie sich Bahn breche. Dieses schäd¬
liche Vorurteil stützt sich auf vereinzelte Vorkommnisse und ist so wenig haltbar
wie die Meinung, daß Ideen nicht unterdrückt, Lehren nicht ausgerottet werde"
könnten durch Verfolgung oder Ausmerzung ihrer Bekenner." Lotmar ist der Ansicht,
daß die Arbeiterbewegung die Wirkungen dieser Unfreiheit bedeutend abzuschwächen
verspreche. "Wenn man sich die zahlreichen Maßregeln, die unter dem Namen
des Arbeiterschutzes befaßt werden, vollständig durchgeführt und sachgemäß auf
"lie, die landwirtschaftliche wie jede gewerbliche Arbeit erstreckt denkt, so braucht
Zwar dadurch der Spielraum der Berufswahl für die Besitzlosen nicht erweitert zu
werden, aber da dann die Berufe, die zu ergreifen sie sich gezwungen sehen, eines
großen Teils ihrer Übel entledigt sind, so ist damit die Unfreiheit ihrer Wahl er¬
träglicher geworden."


Maßgebliches und Unmaßgebliches

mir daß gewisse Ursachen, an die man nicht gern denkt, nur flüchtig gestreift
werden, und daß die Einsicht in den organischen Zusammenhang aller dieser Ursachen
zu fehlen scheint. Schulunterricht und Militär versäumt mau nirgends unter den
Ursachen anzuführen. Vom Lohne wird freilich behauptet, er sei, die Naturalien
eingerechnet, sogar höher als in der Industrie. Ob das der Fall ist, mögen solche
Mitarbeiter entscheiden, denen die neusten statistischen Hilfsmittel zur Verfügung
stehen. Im Jafalle wird die Besserung zu spät gekommen sein; im Jahre 1393
Waren die Löhne in Oberschlesien noch erbärmlich und wirklich unzureichend, wie
ich in den Aufsätzen über die Landarbeiter im vierten Bande des genannten Jahr¬
gangs S. 356 auf Grund gewissenhafter persönlicher Erkundigungen dargelegt
habe. Außerdem ist in Schlesien, auf den Rittergütern wenigstens, bei den Tage¬
löhnern von Naturalien gar keine Rede; nicht einmal ein Stück Brot oder einen
Trunk bekommen die Leute außer ihrer Mark Tagelohn. (Zufällig erfahre ich, daß
der Arbeitermangel jetzt auch die Dominien nötigt, zur Mark Geld noch die Kost
hinzuzugeben.) Wenn in den Provinzen, wo die Einrichtung der Jnstleute noch
besteht, darüber geklagt wird, daß die Leute selbst darnach strebten, die letzten Reste
des Naturallvhns in Geld umzuwandeln, so mag das richtig sein; gewiß ist aber,
daß es die Rittergutsbesitzer sind, die den Umwandlungsprozeß eingeleitet haben
in einer Zeit, wo er ihnen bei hohen Getreidepreisen vorteilhaft schien. Die Herren
von der Negierung mögen sich sperren und sträuben, so lange sie wollen, schließlich
werden sie gezwungen sein, die Nichtigkeit dessen anzuerkennen, was ich an ver¬
schiednen Orten über die Frage gesagt habe; sehr kräftig u. a. im zweiten der
Aufsätze über die Landarbeiterfrage S. 401 des vierten Bandes des Jahrgangs
L. I- 1393 der Grenzboten.


Die Freiheit der Berufswahl. Philipp Lotmar,

Professor der Rechte
an der Universität Bern, hat am 4. Dezember vorigen Jahres über die Freiheit
der Berufswahl eine Rektoratsrede gehalten (bei Duncker und Humblot in Leipzig
jetzt im Druck erschienen), die nachweist, daß die Beseitigung der gesetzlichen Schranken
der Berufswahlfreiheit vor der Hand nicht viel nutzt, da die sozialen Schranken
mindestens ebenso stark, wo nicht noch stärker hindern, als ehedem die gesetzlichen
gehindert haben. Im Gegensatz zu Ammon und seiner Schule schreibt er: „Gewiß
ist, daß die durch ökonomischen und sozialen Druck erzwungne Hingabe an einen
Beruf nicht bloß das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigt, bei dem der Zwie¬
spalt von Sein und Thun zum Leiden wird, sondern auch das Ganze in Mitleiden¬
schaft zieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden dadurch der Gesellschaft Kräfte
vorenthalten, die zu ihrem Vorteil gewirkt haben würden. Dies wird immer noch
von manchen mit der unerwiesenen und unerweislichen Annahme bestritten, daß
Talente nicht zu ersticken seien, daß jedes Genie sich Bahn breche. Dieses schäd¬
liche Vorurteil stützt sich auf vereinzelte Vorkommnisse und ist so wenig haltbar
wie die Meinung, daß Ideen nicht unterdrückt, Lehren nicht ausgerottet werde»
könnten durch Verfolgung oder Ausmerzung ihrer Bekenner." Lotmar ist der Ansicht,
daß die Arbeiterbewegung die Wirkungen dieser Unfreiheit bedeutend abzuschwächen
verspreche. „Wenn man sich die zahlreichen Maßregeln, die unter dem Namen
des Arbeiterschutzes befaßt werden, vollständig durchgeführt und sachgemäß auf
"lie, die landwirtschaftliche wie jede gewerbliche Arbeit erstreckt denkt, so braucht
Zwar dadurch der Spielraum der Berufswahl für die Besitzlosen nicht erweitert zu
werden, aber da dann die Berufe, die zu ergreifen sie sich gezwungen sehen, eines
großen Teils ihrer Übel entledigt sind, so ist damit die Unfreiheit ihrer Wahl er¬
träglicher geworden."


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[0511] Maßgebliches und Unmaßgebliches mir daß gewisse Ursachen, an die man nicht gern denkt, nur flüchtig gestreift werden, und daß die Einsicht in den organischen Zusammenhang aller dieser Ursachen zu fehlen scheint. Schulunterricht und Militär versäumt mau nirgends unter den Ursachen anzuführen. Vom Lohne wird freilich behauptet, er sei, die Naturalien eingerechnet, sogar höher als in der Industrie. Ob das der Fall ist, mögen solche Mitarbeiter entscheiden, denen die neusten statistischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Im Jafalle wird die Besserung zu spät gekommen sein; im Jahre 1393 Waren die Löhne in Oberschlesien noch erbärmlich und wirklich unzureichend, wie ich in den Aufsätzen über die Landarbeiter im vierten Bande des genannten Jahr¬ gangs S. 356 auf Grund gewissenhafter persönlicher Erkundigungen dargelegt habe. Außerdem ist in Schlesien, auf den Rittergütern wenigstens, bei den Tage¬ löhnern von Naturalien gar keine Rede; nicht einmal ein Stück Brot oder einen Trunk bekommen die Leute außer ihrer Mark Tagelohn. (Zufällig erfahre ich, daß der Arbeitermangel jetzt auch die Dominien nötigt, zur Mark Geld noch die Kost hinzuzugeben.) Wenn in den Provinzen, wo die Einrichtung der Jnstleute noch besteht, darüber geklagt wird, daß die Leute selbst darnach strebten, die letzten Reste des Naturallvhns in Geld umzuwandeln, so mag das richtig sein; gewiß ist aber, daß es die Rittergutsbesitzer sind, die den Umwandlungsprozeß eingeleitet haben in einer Zeit, wo er ihnen bei hohen Getreidepreisen vorteilhaft schien. Die Herren von der Negierung mögen sich sperren und sträuben, so lange sie wollen, schließlich werden sie gezwungen sein, die Nichtigkeit dessen anzuerkennen, was ich an ver¬ schiednen Orten über die Frage gesagt habe; sehr kräftig u. a. im zweiten der Aufsätze über die Landarbeiterfrage S. 401 des vierten Bandes des Jahrgangs L. I- 1393 der Grenzboten. Die Freiheit der Berufswahl. Philipp Lotmar, Professor der Rechte an der Universität Bern, hat am 4. Dezember vorigen Jahres über die Freiheit der Berufswahl eine Rektoratsrede gehalten (bei Duncker und Humblot in Leipzig jetzt im Druck erschienen), die nachweist, daß die Beseitigung der gesetzlichen Schranken der Berufswahlfreiheit vor der Hand nicht viel nutzt, da die sozialen Schranken mindestens ebenso stark, wo nicht noch stärker hindern, als ehedem die gesetzlichen gehindert haben. Im Gegensatz zu Ammon und seiner Schule schreibt er: „Gewiß ist, daß die durch ökonomischen und sozialen Druck erzwungne Hingabe an einen Beruf nicht bloß das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigt, bei dem der Zwie¬ spalt von Sein und Thun zum Leiden wird, sondern auch das Ganze in Mitleiden¬ schaft zieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden dadurch der Gesellschaft Kräfte vorenthalten, die zu ihrem Vorteil gewirkt haben würden. Dies wird immer noch von manchen mit der unerwiesenen und unerweislichen Annahme bestritten, daß Talente nicht zu ersticken seien, daß jedes Genie sich Bahn breche. Dieses schäd¬ liche Vorurteil stützt sich auf vereinzelte Vorkommnisse und ist so wenig haltbar wie die Meinung, daß Ideen nicht unterdrückt, Lehren nicht ausgerottet werde» könnten durch Verfolgung oder Ausmerzung ihrer Bekenner." Lotmar ist der Ansicht, daß die Arbeiterbewegung die Wirkungen dieser Unfreiheit bedeutend abzuschwächen verspreche. „Wenn man sich die zahlreichen Maßregeln, die unter dem Namen des Arbeiterschutzes befaßt werden, vollständig durchgeführt und sachgemäß auf "lie, die landwirtschaftliche wie jede gewerbliche Arbeit erstreckt denkt, so braucht Zwar dadurch der Spielraum der Berufswahl für die Besitzlosen nicht erweitert zu werden, aber da dann die Berufe, die zu ergreifen sie sich gezwungen sehen, eines großen Teils ihrer Übel entledigt sind, so ist damit die Unfreiheit ihrer Wahl er¬ träglicher geworden."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/511>, abgerufen am 26.12.2024.