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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

gierung ans allen Lagern viel weniger Exaltados erhalten, zumal von den
Tschechen. Den Haß gegen das Deutsche machen dort zu allermeist die eben
der Schule entronnenen Jünglinge. Die Ältern hat die Erfahrung den Wert
dieser Sprache schätzen gelehrt. Freilich ist der Befolgung meines Rates in
Österreich der Umstand im Wege, daß ich Österreicher bin. Der Prophet gilt
wenig in seinem Vaterlande, und am allerwenigsten, wenn er Österreicher ist.
Aber der Österreicher lebt ja im Auslande. Sollte das kein Milderungs-
grund sein?




Friedrich Nietzsche
Lark Ientsch von4

ietzsche klagt oft darüber, daß der Fetischdienst der Worte Ver¬
wirrung anrichte im Reich der Begriffe. In der That trifft
das ganz besonders im Gebiete der Ethik zu, ja gerade die
Worte: Ethik, Moral, Sitte, Sittlichkeit sind es, die ein echtes
Verständnis dessen, was man mit ihnen meint, so schwer auf¬
kommen lassen. Ich habe schon früher einmal bemerkt, daß es eine Bezeich¬
nung für das, was der Philosoph mit jenen Worten eigentlich meint, über¬
haupt nicht gebe. Es ist ungefähr dasselbe, was die neutestamentlichen
Schriftsteller mit den Ausdrücken: Glaube, Hoffnung, Liebe, oder Heiligkeit und
Gerechtigkeit, oder Himmelreich meinen, aber keiner dieser Ausdrücke erschöpft
für sich allein die Sache, und alle zusammen genommen geben nicht ohne
weiteres einen klaren Begriff davon. Wenn man unter Sittlichkeit nichts
andres versteht als die Beobachtung der Sitte, so ist sie, wie ich oft gesagt
habe, von dem Benehmen des dressirten Hundes schlechterdings nicht ver¬
schieden. Soll sie etwas höheres und besseres sein, so muß das dem ästhetischen
Urteil verwandte sittliche Urteil dazu kommen, das dadurch entsteht, daß wir
die Idee des Guten haben, wie wir andrerseits auch die Idee des Schönen
haben, und daß uns die Dinge gefallen und mißfallen, je nachdem sie mit
jenen zwei Ideen übereinstimmen oder nicht. Wer einen Gott, in dem die
Ideen leben, nicht annimmt, der kann sich die Sittlichkeit natürlich nur auf
darwinischen Wegen entstanden denken, und auch Nietzsche erklärt sie so, ob¬
wohl er den Darwinismus das einemal entsetzlich nennt, was dieser als
Philosophie ja auch ist, und ein andermal (XI, 16) eine Philosophie für
Fleischerburschen. Aber diese durch Zwang und Züchtung gewordne Moralität


Grenzboten II 1898 60
Friedrich Nietzsche

gierung ans allen Lagern viel weniger Exaltados erhalten, zumal von den
Tschechen. Den Haß gegen das Deutsche machen dort zu allermeist die eben
der Schule entronnenen Jünglinge. Die Ältern hat die Erfahrung den Wert
dieser Sprache schätzen gelehrt. Freilich ist der Befolgung meines Rates in
Österreich der Umstand im Wege, daß ich Österreicher bin. Der Prophet gilt
wenig in seinem Vaterlande, und am allerwenigsten, wenn er Österreicher ist.
Aber der Österreicher lebt ja im Auslande. Sollte das kein Milderungs-
grund sein?




Friedrich Nietzsche
Lark Ientsch von4

ietzsche klagt oft darüber, daß der Fetischdienst der Worte Ver¬
wirrung anrichte im Reich der Begriffe. In der That trifft
das ganz besonders im Gebiete der Ethik zu, ja gerade die
Worte: Ethik, Moral, Sitte, Sittlichkeit sind es, die ein echtes
Verständnis dessen, was man mit ihnen meint, so schwer auf¬
kommen lassen. Ich habe schon früher einmal bemerkt, daß es eine Bezeich¬
nung für das, was der Philosoph mit jenen Worten eigentlich meint, über¬
haupt nicht gebe. Es ist ungefähr dasselbe, was die neutestamentlichen
Schriftsteller mit den Ausdrücken: Glaube, Hoffnung, Liebe, oder Heiligkeit und
Gerechtigkeit, oder Himmelreich meinen, aber keiner dieser Ausdrücke erschöpft
für sich allein die Sache, und alle zusammen genommen geben nicht ohne
weiteres einen klaren Begriff davon. Wenn man unter Sittlichkeit nichts
andres versteht als die Beobachtung der Sitte, so ist sie, wie ich oft gesagt
habe, von dem Benehmen des dressirten Hundes schlechterdings nicht ver¬
schieden. Soll sie etwas höheres und besseres sein, so muß das dem ästhetischen
Urteil verwandte sittliche Urteil dazu kommen, das dadurch entsteht, daß wir
die Idee des Guten haben, wie wir andrerseits auch die Idee des Schönen
haben, und daß uns die Dinge gefallen und mißfallen, je nachdem sie mit
jenen zwei Ideen übereinstimmen oder nicht. Wer einen Gott, in dem die
Ideen leben, nicht annimmt, der kann sich die Sittlichkeit natürlich nur auf
darwinischen Wegen entstanden denken, und auch Nietzsche erklärt sie so, ob¬
wohl er den Darwinismus das einemal entsetzlich nennt, was dieser als
Philosophie ja auch ist, und ein andermal (XI, 16) eine Philosophie für
Fleischerburschen. Aber diese durch Zwang und Züchtung gewordne Moralität


Grenzboten II 1898 60
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[0481] Friedrich Nietzsche gierung ans allen Lagern viel weniger Exaltados erhalten, zumal von den Tschechen. Den Haß gegen das Deutsche machen dort zu allermeist die eben der Schule entronnenen Jünglinge. Die Ältern hat die Erfahrung den Wert dieser Sprache schätzen gelehrt. Freilich ist der Befolgung meines Rates in Österreich der Umstand im Wege, daß ich Österreicher bin. Der Prophet gilt wenig in seinem Vaterlande, und am allerwenigsten, wenn er Österreicher ist. Aber der Österreicher lebt ja im Auslande. Sollte das kein Milderungs- grund sein? Friedrich Nietzsche Lark Ientsch von4 ietzsche klagt oft darüber, daß der Fetischdienst der Worte Ver¬ wirrung anrichte im Reich der Begriffe. In der That trifft das ganz besonders im Gebiete der Ethik zu, ja gerade die Worte: Ethik, Moral, Sitte, Sittlichkeit sind es, die ein echtes Verständnis dessen, was man mit ihnen meint, so schwer auf¬ kommen lassen. Ich habe schon früher einmal bemerkt, daß es eine Bezeich¬ nung für das, was der Philosoph mit jenen Worten eigentlich meint, über¬ haupt nicht gebe. Es ist ungefähr dasselbe, was die neutestamentlichen Schriftsteller mit den Ausdrücken: Glaube, Hoffnung, Liebe, oder Heiligkeit und Gerechtigkeit, oder Himmelreich meinen, aber keiner dieser Ausdrücke erschöpft für sich allein die Sache, und alle zusammen genommen geben nicht ohne weiteres einen klaren Begriff davon. Wenn man unter Sittlichkeit nichts andres versteht als die Beobachtung der Sitte, so ist sie, wie ich oft gesagt habe, von dem Benehmen des dressirten Hundes schlechterdings nicht ver¬ schieden. Soll sie etwas höheres und besseres sein, so muß das dem ästhetischen Urteil verwandte sittliche Urteil dazu kommen, das dadurch entsteht, daß wir die Idee des Guten haben, wie wir andrerseits auch die Idee des Schönen haben, und daß uns die Dinge gefallen und mißfallen, je nachdem sie mit jenen zwei Ideen übereinstimmen oder nicht. Wer einen Gott, in dem die Ideen leben, nicht annimmt, der kann sich die Sittlichkeit natürlich nur auf darwinischen Wegen entstanden denken, und auch Nietzsche erklärt sie so, ob¬ wohl er den Darwinismus das einemal entsetzlich nennt, was dieser als Philosophie ja auch ist, und ein andermal (XI, 16) eine Philosophie für Fleischerburschen. Aber diese durch Zwang und Züchtung gewordne Moralität Grenzboten II 1898 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/481>, abgerufen am 26.12.2024.