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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche
<Lari Jentsch von1

le Besprechung zweier Schriften über Nietzsche im 31. Heft des
vorigen Jahrgangs habe ich mit den Sätzen eingeleitet: "Die
meisten der Bücher und Broschüren, die über Philosophen ge¬
schrieben werden, sind überflüssig; gute Schriften über Nietzsche
dagegen finden wir nützlich, weil man niemandem die Lektüre
dieses Schwarmgeistes anraten kann. Ich selbst habe ihn noch nicht gelesen."
Kurz darauf wurde ich veranlaßt, ihn vorzunehmen, habe ihn ganz durch-
gelesen und sehe um, daß die Entrüstung, die jene Sätze bei einigen Ver¬
ehrern Nietzsches hervorgerufen hatten, berechtigt gewesen ist, und daß ich ihm
selbst Abbitte zu leisten habe. Er ist kein Schwarmgeist. "Ich will Zäune
um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in
meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen," schreibt er VI, 277,°^)
und eine der bei seinen Lebzeiten'"') noch nicht veröffentlichten Notizen lautet:
"Mein Erfolg bei den Schwarmgeistern, dessen war ich bald müde und mi߬
trauisch" (XI, 398). Aber eben der Umstand, daß seine Verehrer meistens
den Eindruck von Schwarmgeistern machen, mag dem Vorurteil, das ich gehegt
hatte, zu einiger Entschuldigung dienen.

Beim Lesen erstaunt man zunächst darüber, in welchem Grade die moderne
Gedankenwelt von Nietzsche, oder Nietzsche von ihr, oder jedes vom andern
durchdrungen ist. Abgesehen von den umlaufenden Redensarten, die jedermann
als nietzschisch kennt, findet man, daß noch manche andre, mit denen die
Zeitungs- und Bücherschreiber prunken, von Nietzsche stammen, wie: der gute
Europäer, der Bilduugsphilister, Wohlwollen die Höflichkeit des Herzens,
öffentliche Meinungen private Faulheiten. Ja manche heutige Richtungen,




") Die Ziffern beziehen sich auf die von 1895 bis 1897 bei C, G, Nnmnann in Leipzig
erschienene Gesamtausgabe seiner Werke. Steht ein B. davor, so ist die von seiner Schwester,
Frau Elisabeth Förster-Nietzsche verfaßte Biographie gemeint. Um den Text nicht mit Zahlen
zu überladen, gebe ich nur von den wichtigsten Zitaten den Ort um.
Sein Leben schließt mit seiner geistigen Erkrankung ab; mas nachher herausgekommen
ist, darf man wohl als posthum bezeichnen.


Friedrich Nietzsche
<Lari Jentsch von1

le Besprechung zweier Schriften über Nietzsche im 31. Heft des
vorigen Jahrgangs habe ich mit den Sätzen eingeleitet: „Die
meisten der Bücher und Broschüren, die über Philosophen ge¬
schrieben werden, sind überflüssig; gute Schriften über Nietzsche
dagegen finden wir nützlich, weil man niemandem die Lektüre
dieses Schwarmgeistes anraten kann. Ich selbst habe ihn noch nicht gelesen."
Kurz darauf wurde ich veranlaßt, ihn vorzunehmen, habe ihn ganz durch-
gelesen und sehe um, daß die Entrüstung, die jene Sätze bei einigen Ver¬
ehrern Nietzsches hervorgerufen hatten, berechtigt gewesen ist, und daß ich ihm
selbst Abbitte zu leisten habe. Er ist kein Schwarmgeist. „Ich will Zäune
um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in
meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen," schreibt er VI, 277,°^)
und eine der bei seinen Lebzeiten'"') noch nicht veröffentlichten Notizen lautet:
„Mein Erfolg bei den Schwarmgeistern, dessen war ich bald müde und mi߬
trauisch" (XI, 398). Aber eben der Umstand, daß seine Verehrer meistens
den Eindruck von Schwarmgeistern machen, mag dem Vorurteil, das ich gehegt
hatte, zu einiger Entschuldigung dienen.

Beim Lesen erstaunt man zunächst darüber, in welchem Grade die moderne
Gedankenwelt von Nietzsche, oder Nietzsche von ihr, oder jedes vom andern
durchdrungen ist. Abgesehen von den umlaufenden Redensarten, die jedermann
als nietzschisch kennt, findet man, daß noch manche andre, mit denen die
Zeitungs- und Bücherschreiber prunken, von Nietzsche stammen, wie: der gute
Europäer, der Bilduugsphilister, Wohlwollen die Höflichkeit des Herzens,
öffentliche Meinungen private Faulheiten. Ja manche heutige Richtungen,




") Die Ziffern beziehen sich auf die von 1895 bis 1897 bei C, G, Nnmnann in Leipzig
erschienene Gesamtausgabe seiner Werke. Steht ein B. davor, so ist die von seiner Schwester,
Frau Elisabeth Förster-Nietzsche verfaßte Biographie gemeint. Um den Text nicht mit Zahlen
zu überladen, gebe ich nur von den wichtigsten Zitaten den Ort um.
Sein Leben schließt mit seiner geistigen Erkrankung ab; mas nachher herausgekommen
ist, darf man wohl als posthum bezeichnen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/184>, abgerufen am 23.07.2024.