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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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eben doch mich von Arbeitern gemacht, und es ist außerdem die Frage, ob das
produktive Unternehmen, worauf er das Geld verwendet, nicht wegen mangelnder
Rentabilität wieder eingeht und Leute brotlos macht; oder vielleicht ist es gerade
ein LuWsgeschäst, dessen Arbeiter nur bestehen können, wenn viel Luxus ge¬
trieben wird.

S. 112 schreibt Müller: "Einige Nationalökonomen, darunter mehrere Deutsche,
haben sich die geistreiche Bemerkung nicht versagen können, daß der Kapitalist über¬
haupt nichts vorschieße, daß höchstens der Arbeiter, der z. B. am Ende der Woche
abgelohnt werde, dem Kapitalisten Arbeit vorschieße," und bringt dann die bekannte
Begründung der gegenteiligen Ansicht: daß der Arbeiter ohne den Vorschuß des
Kapitalisten nicht leben könne, wenn er nicht selbst ein wenig Kapitalist sei. Müller
leugnet also nicht, daß es der Arbeiter ist, der etwas vorschießt, wenn er den Lohn
erst am Ende der Woche empfängt, aber er sieht es als das Normale an, daß der
Arbeiter den Lohn im voraus, also als wirkliche" Vorschuß empfange; geschehe das
nicht, dann müßte er beim Bäcker, Fleischer und Krämer borgen; und dann seien
diese die Kapitalisten, die ihm das Leben ermöglichten; also gehe es ans keinen
Fall ohne Kapitalisten. Ja, wo steht das denn geschrieben, daß jeder Arbeiter
unbedingt ein Lnmpenproletarier sein müsse, der verhungert, wenn ihm nicht irgend
jemand entweder den Lohn vorausbezahlt oder die Lebensmittel vorschießt? Die
Bauarbeiter an meinem Wohnort sind fast ausnahmslos Stellcnbesitzer oder Söhne
von solchen in den benachbarten Dörfern, die nicht bloß eine Woche, sondern einen
Monat und vielleicht ein Vierteljahr lang zu leben hätten, wenn sie so lauge auf
ihren Arbeitslohn warten müßten. Dasselbe habe ich auch schou bei Fabriken ge¬
sunden; so waren die Arbeiter der Offcuburger Spinnerei größtenteils Söhne und
Töchter von Landleuten der umliegenden Dörfer. Es ist kein Grund vorhanden,
warum uicht jeder Arbeiter ein solcher kleiner Kapitalist sein sollte, der sich nichts
vorschießen zu lassen braucht.

Müllers Polemik gegen mich hält mich nicht ab, sein Buch zu empfehlen; es
ist frisch und anregend geschrieben und liest sich angenehm. Man muß sich ja
darüber freuen, daß sich ein wirklicher Praktiker überhaupt mit dem Nachdenken
L, I- über volkswirtschaftliche Fragen und Begriffe abmüht.


Organische Güterverteilung.

Unter dem sonderbaren Titel: Zur orga¬
nischen Güterverteilung hat Karl Kindermann, Doktor der Philosophie und
der Rechte und Privcitdozcnt in Heidelberg, zwei Bücher herausgegeben, die sich
mit den Verhältnissen je einer Arbeiterklasse beschäftigen: der Roheisenarbeiter der
Bereinigten Staaten und der Glasarbeiter Deutschlands und der Vereinigte" Staaten
(Leipzig, Duncker und Humblot, 1894 und 1896). Der Verfasser betrachtet nämlich
Deutschland und die große Republik als Vertreter zweier Gesellschaftssysteme, die
er das zentralistische und das pluralistische nennt. Diese beiden Ausdrucke bezeichnen
ungefähr dasselbe, wie die alten Ausdrücke absolutistisch und liberal, nur daß man
sich den Absolutismus noch mit ständischer Gliederung verbunden zu denken hat,
aber man muß dem Verfasser zugestehen, daß seine Auffassung und geschichtliche
Begründung der beiden Shsteme, wenn sie auch in der Sache nichts neues bieten
kann, doch durch die Kunst der Darstellung den Eindruck der Originalität macht,
und daß er es besonders versteht, den Gegensatz durch die Schilderung der von
ihm behandelten Arbeiterklassen zu erläutern. So heißt es S. 9: In der Union
"fühlt sich der Arbeiter im ganzen als ein selbständiger Mann; er hat auf der
gleichen Schulbank mit dem Unternehmersohn gesessen; im Beruf nud Staatsleben


eben doch mich von Arbeitern gemacht, und es ist außerdem die Frage, ob das
produktive Unternehmen, worauf er das Geld verwendet, nicht wegen mangelnder
Rentabilität wieder eingeht und Leute brotlos macht; oder vielleicht ist es gerade
ein LuWsgeschäst, dessen Arbeiter nur bestehen können, wenn viel Luxus ge¬
trieben wird.

S. 112 schreibt Müller: „Einige Nationalökonomen, darunter mehrere Deutsche,
haben sich die geistreiche Bemerkung nicht versagen können, daß der Kapitalist über¬
haupt nichts vorschieße, daß höchstens der Arbeiter, der z. B. am Ende der Woche
abgelohnt werde, dem Kapitalisten Arbeit vorschieße," und bringt dann die bekannte
Begründung der gegenteiligen Ansicht: daß der Arbeiter ohne den Vorschuß des
Kapitalisten nicht leben könne, wenn er nicht selbst ein wenig Kapitalist sei. Müller
leugnet also nicht, daß es der Arbeiter ist, der etwas vorschießt, wenn er den Lohn
erst am Ende der Woche empfängt, aber er sieht es als das Normale an, daß der
Arbeiter den Lohn im voraus, also als wirkliche» Vorschuß empfange; geschehe das
nicht, dann müßte er beim Bäcker, Fleischer und Krämer borgen; und dann seien
diese die Kapitalisten, die ihm das Leben ermöglichten; also gehe es ans keinen
Fall ohne Kapitalisten. Ja, wo steht das denn geschrieben, daß jeder Arbeiter
unbedingt ein Lnmpenproletarier sein müsse, der verhungert, wenn ihm nicht irgend
jemand entweder den Lohn vorausbezahlt oder die Lebensmittel vorschießt? Die
Bauarbeiter an meinem Wohnort sind fast ausnahmslos Stellcnbesitzer oder Söhne
von solchen in den benachbarten Dörfern, die nicht bloß eine Woche, sondern einen
Monat und vielleicht ein Vierteljahr lang zu leben hätten, wenn sie so lauge auf
ihren Arbeitslohn warten müßten. Dasselbe habe ich auch schou bei Fabriken ge¬
sunden; so waren die Arbeiter der Offcuburger Spinnerei größtenteils Söhne und
Töchter von Landleuten der umliegenden Dörfer. Es ist kein Grund vorhanden,
warum uicht jeder Arbeiter ein solcher kleiner Kapitalist sein sollte, der sich nichts
vorschießen zu lassen braucht.

Müllers Polemik gegen mich hält mich nicht ab, sein Buch zu empfehlen; es
ist frisch und anregend geschrieben und liest sich angenehm. Man muß sich ja
darüber freuen, daß sich ein wirklicher Praktiker überhaupt mit dem Nachdenken
L, I- über volkswirtschaftliche Fragen und Begriffe abmüht.


Organische Güterverteilung.

Unter dem sonderbaren Titel: Zur orga¬
nischen Güterverteilung hat Karl Kindermann, Doktor der Philosophie und
der Rechte und Privcitdozcnt in Heidelberg, zwei Bücher herausgegeben, die sich
mit den Verhältnissen je einer Arbeiterklasse beschäftigen: der Roheisenarbeiter der
Bereinigten Staaten und der Glasarbeiter Deutschlands und der Vereinigte» Staaten
(Leipzig, Duncker und Humblot, 1894 und 1896). Der Verfasser betrachtet nämlich
Deutschland und die große Republik als Vertreter zweier Gesellschaftssysteme, die
er das zentralistische und das pluralistische nennt. Diese beiden Ausdrucke bezeichnen
ungefähr dasselbe, wie die alten Ausdrücke absolutistisch und liberal, nur daß man
sich den Absolutismus noch mit ständischer Gliederung verbunden zu denken hat,
aber man muß dem Verfasser zugestehen, daß seine Auffassung und geschichtliche
Begründung der beiden Shsteme, wenn sie auch in der Sache nichts neues bieten
kann, doch durch die Kunst der Darstellung den Eindruck der Originalität macht,
und daß er es besonders versteht, den Gegensatz durch die Schilderung der von
ihm behandelten Arbeiterklassen zu erläutern. So heißt es S. 9: In der Union
„fühlt sich der Arbeiter im ganzen als ein selbständiger Mann; er hat auf der
gleichen Schulbank mit dem Unternehmersohn gesessen; im Beruf nud Staatsleben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/151>, abgerufen am 26.12.2024.