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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das Wesen des Staats

eleven die Menschen angefangen haben, über den Staat und sein
Wesen nachzudenken, haben sich zwei verschiedne Anschauungen
ausgebildet. Die einen sehen den Staat von oben an, die
andern von unten, die einen als Negierende, die andern als
Regierte, die einen vom politischen, die andern vom sozialen
Standpunkt aus. Im klassischen Altertum herrschte die harte politische Ansicht.
Der Mensch ging als Bürger völlig im Staate auf, war nur für den Staat
da; selbst die Religion war Staatssache, ein Konflikt zwischen weltlicher und
geistlicher Gewalt so gut wie unmöglich. Erst im sinkenden Altertum regte
sich die Sehnsucht nach einem persönlichen, privaten Dasein ohne Anteil am
Staat, und von einer unwiderstehlichen Reaktion der Persönlichkeit gegen den
harten Zwang des Staats wurde das Christentum mit zum Siege geführt. Daher
stand im Mittelalter die Kirche, die herrschende geistige Macht der Zeit, dem
Staate gleichgiltig und verständnislos gegenüber; sie sah in ihm eine unter¬
geordnete, auf die allerdringendsten Aufgaben des Waffen- und Rechtsschutzes
beschränkte Einrichtung, das Reich der Welt, der Sünde gegenüber dem Reiche
Gottes, der Kirche. Erst Luthers Reformation brachte in ungewollten Zusammen¬
wirken mit dem großen Heiden Macchiavelli eine Wandlung der Anschauung
nach der politischen Seite hin; der Staat erschien jetzt als eine göttliche
Ordnung wie die Kirche, mit sittlichem Selbstzweck und ihr als irdische Macht
übergeordnet, aber daneben erhielt sich in der römischen Kirche die mittel¬
alterliche Auffassung bis zur Stunde. Indem sich nun aber dieser neue Staats¬
begriff im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert immer schärfer nach der
antiken Seite hin ausbildete und dem Staate eine absolute, alle Seitendes
Menschendaseins leitende, selbst die Kirche als eine staatliche Polizeianstalt zu
staatliche" Zwecken brauchende Gewalt zuschrieb, trieb sie im vorigen Jahr-


Grenzboten I 1898 1


Das Wesen des Staats

eleven die Menschen angefangen haben, über den Staat und sein
Wesen nachzudenken, haben sich zwei verschiedne Anschauungen
ausgebildet. Die einen sehen den Staat von oben an, die
andern von unten, die einen als Negierende, die andern als
Regierte, die einen vom politischen, die andern vom sozialen
Standpunkt aus. Im klassischen Altertum herrschte die harte politische Ansicht.
Der Mensch ging als Bürger völlig im Staate auf, war nur für den Staat
da; selbst die Religion war Staatssache, ein Konflikt zwischen weltlicher und
geistlicher Gewalt so gut wie unmöglich. Erst im sinkenden Altertum regte
sich die Sehnsucht nach einem persönlichen, privaten Dasein ohne Anteil am
Staat, und von einer unwiderstehlichen Reaktion der Persönlichkeit gegen den
harten Zwang des Staats wurde das Christentum mit zum Siege geführt. Daher
stand im Mittelalter die Kirche, die herrschende geistige Macht der Zeit, dem
Staate gleichgiltig und verständnislos gegenüber; sie sah in ihm eine unter¬
geordnete, auf die allerdringendsten Aufgaben des Waffen- und Rechtsschutzes
beschränkte Einrichtung, das Reich der Welt, der Sünde gegenüber dem Reiche
Gottes, der Kirche. Erst Luthers Reformation brachte in ungewollten Zusammen¬
wirken mit dem großen Heiden Macchiavelli eine Wandlung der Anschauung
nach der politischen Seite hin; der Staat erschien jetzt als eine göttliche
Ordnung wie die Kirche, mit sittlichem Selbstzweck und ihr als irdische Macht
übergeordnet, aber daneben erhielt sich in der römischen Kirche die mittel¬
alterliche Auffassung bis zur Stunde. Indem sich nun aber dieser neue Staats¬
begriff im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert immer schärfer nach der
antiken Seite hin ausbildete und dem Staate eine absolute, alle Seitendes
Menschendaseins leitende, selbst die Kirche als eine staatliche Polizeianstalt zu
staatliche» Zwecken brauchende Gewalt zuschrieb, trieb sie im vorigen Jahr-


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[0009] [Abbildung] Das Wesen des Staats eleven die Menschen angefangen haben, über den Staat und sein Wesen nachzudenken, haben sich zwei verschiedne Anschauungen ausgebildet. Die einen sehen den Staat von oben an, die andern von unten, die einen als Negierende, die andern als Regierte, die einen vom politischen, die andern vom sozialen Standpunkt aus. Im klassischen Altertum herrschte die harte politische Ansicht. Der Mensch ging als Bürger völlig im Staate auf, war nur für den Staat da; selbst die Religion war Staatssache, ein Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt so gut wie unmöglich. Erst im sinkenden Altertum regte sich die Sehnsucht nach einem persönlichen, privaten Dasein ohne Anteil am Staat, und von einer unwiderstehlichen Reaktion der Persönlichkeit gegen den harten Zwang des Staats wurde das Christentum mit zum Siege geführt. Daher stand im Mittelalter die Kirche, die herrschende geistige Macht der Zeit, dem Staate gleichgiltig und verständnislos gegenüber; sie sah in ihm eine unter¬ geordnete, auf die allerdringendsten Aufgaben des Waffen- und Rechtsschutzes beschränkte Einrichtung, das Reich der Welt, der Sünde gegenüber dem Reiche Gottes, der Kirche. Erst Luthers Reformation brachte in ungewollten Zusammen¬ wirken mit dem großen Heiden Macchiavelli eine Wandlung der Anschauung nach der politischen Seite hin; der Staat erschien jetzt als eine göttliche Ordnung wie die Kirche, mit sittlichem Selbstzweck und ihr als irdische Macht übergeordnet, aber daneben erhielt sich in der römischen Kirche die mittel¬ alterliche Auffassung bis zur Stunde. Indem sich nun aber dieser neue Staats¬ begriff im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert immer schärfer nach der antiken Seite hin ausbildete und dem Staate eine absolute, alle Seitendes Menschendaseins leitende, selbst die Kirche als eine staatliche Polizeianstalt zu staatliche» Zwecken brauchende Gewalt zuschrieb, trieb sie im vorigen Jahr- Grenzboten I 1898 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/9>, abgerufen am 05.01.2025.