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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

Abcschützen zu dem Glauben verleiten, sein Name gewinne, wenn er mit lateinischen
Buchstaben gemalt wird.

Zum Schluß: gilt die Pietät den Leuten, die der deutschen Schrift den Krieg
erklären, gar nichts? Es ist die Schrift, in der die Führer unsers Volks, unsre
Denker und Dichter, Könige, Feldherrn und Staatsmänner, Luther und Kant,
Goethe und Schiller, Kaiser Wilhelm, Moltke und Bismarck geschrieben haben!
Was soll den Ausschlag geben: Nationalgefühl und Pietät, oder Liebedienerei gegen
das Ausland und gelehrter Doktrinarismus? Es handelt sich um eine Sache, die
enger mit dem Volksleben zusammenhängt, als mancher denkt; das konkrete Leben
eines Volkes wird von andern Mächten bestimmt als von gelehrten Theorien und
Doktrinen. Soll es wirklich dahin kommen, daß uns Goethe und Schiller in latei¬
nischer Schrift vorgesetzt werden, daß eine deutsche Bibel, ein deutsches Gesangbuch
ein interessantes Stück beim Antiquitätenhändler sind?


G. Br.


Litteratur
Arbeiterhaushalt.

Mnx May, der schou vor sieben Jahren "zehn
Arbeiterbudgets" veröffentlicht hat, giebt zwanzig weitere, deren Aufbringung ihm
viel Mühe gemacht hat, heraus unter dem Titel: Wie der Arbeiter lebt.
Arbeiterhaushaltungsrechnungen aus Stadt und Land (Berlin, Karl Heymann,
1897). Das Wertvolle in den vorliegenden ist der überzeugende Nachweis, daß
der Arbeiter auf dem Lande nicht allein billiger, sondern auch besser lebt als in
der Stadt, namentlich dann, wenn er ein wenig Landwirtschaft treiben kann, was
in vielen Fallen möglich ist. Der Besitz eines Häuschens und ^einer Ziege, ein
Vorrat von Schweinefleisch und Kartoffeln wehren nicht allein die sxtrizmg,
noovWitus ab, sondern halten auch die Existenz aufrecht und schützen vor der
Verlumpung, der die Familie bei sehr geringem Einkommen fast unvermeidlich
anheimfallt, wenn der Ernährer längere Zeit krank liegt oder ans andern Ur¬
sachen die Arbeit verliert. Und so unsagbar kleine Einkommen, daß die Zurück¬
legung eines Notpfennigs schlechthin unmöglich ist, kommen allerdings vor. Eine
der beschriebnen Familien muß mit 740 Mark im Jahre anstaunen, obwohl
Mann und Frau stramm arbeite", und davon sollen nun sieben Personen leben!
In der Stadt wäre das einfach unmöglich; auf dem Lande können die Leute bei
aller Armseligkeit ihres Daseins immer noch bestehen, weil sie ihr eignes Hänschen
haben, und weil sie, ohne der Verachtung und der Polizei anheimzufallen, in einer
Kleidung oder Kleiduugslosigkeit umhergehe" dürfen, die in der Stadt entweder
nicht geduldet wird, oder die den Träger zum Vagabunden stempelt. Man wende
nicht ein, daß so niedriger Lohn in der Stadt nicht vorkommt. Dafür kommt
zeitweilige Arbeitslosigkeit vor, die schlimmer wirkt als ein zwar niedriger, aber
gleichmäßig übers ganze Jahr verteilter Lohn. Und was der städtische Arbeiter
mehr verdient, das fressen Wohnung, anständige Kleidung und "standesgemäße"
kleine Luxusbcdnrfnissc, nicht zu reden von der Verführung zu unnötigen Luxus
und zu mancherlei Erholungen, die gar keine Erholungen sind. Da die Nähe


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Abcschützen zu dem Glauben verleiten, sein Name gewinne, wenn er mit lateinischen
Buchstaben gemalt wird.

Zum Schluß: gilt die Pietät den Leuten, die der deutschen Schrift den Krieg
erklären, gar nichts? Es ist die Schrift, in der die Führer unsers Volks, unsre
Denker und Dichter, Könige, Feldherrn und Staatsmänner, Luther und Kant,
Goethe und Schiller, Kaiser Wilhelm, Moltke und Bismarck geschrieben haben!
Was soll den Ausschlag geben: Nationalgefühl und Pietät, oder Liebedienerei gegen
das Ausland und gelehrter Doktrinarismus? Es handelt sich um eine Sache, die
enger mit dem Volksleben zusammenhängt, als mancher denkt; das konkrete Leben
eines Volkes wird von andern Mächten bestimmt als von gelehrten Theorien und
Doktrinen. Soll es wirklich dahin kommen, daß uns Goethe und Schiller in latei¬
nischer Schrift vorgesetzt werden, daß eine deutsche Bibel, ein deutsches Gesangbuch
ein interessantes Stück beim Antiquitätenhändler sind?


G. Br.


Litteratur
Arbeiterhaushalt.

Mnx May, der schou vor sieben Jahren „zehn
Arbeiterbudgets" veröffentlicht hat, giebt zwanzig weitere, deren Aufbringung ihm
viel Mühe gemacht hat, heraus unter dem Titel: Wie der Arbeiter lebt.
Arbeiterhaushaltungsrechnungen aus Stadt und Land (Berlin, Karl Heymann,
1897). Das Wertvolle in den vorliegenden ist der überzeugende Nachweis, daß
der Arbeiter auf dem Lande nicht allein billiger, sondern auch besser lebt als in
der Stadt, namentlich dann, wenn er ein wenig Landwirtschaft treiben kann, was
in vielen Fallen möglich ist. Der Besitz eines Häuschens und ^einer Ziege, ein
Vorrat von Schweinefleisch und Kartoffeln wehren nicht allein die sxtrizmg,
noovWitus ab, sondern halten auch die Existenz aufrecht und schützen vor der
Verlumpung, der die Familie bei sehr geringem Einkommen fast unvermeidlich
anheimfallt, wenn der Ernährer längere Zeit krank liegt oder ans andern Ur¬
sachen die Arbeit verliert. Und so unsagbar kleine Einkommen, daß die Zurück¬
legung eines Notpfennigs schlechthin unmöglich ist, kommen allerdings vor. Eine
der beschriebnen Familien muß mit 740 Mark im Jahre anstaunen, obwohl
Mann und Frau stramm arbeite», und davon sollen nun sieben Personen leben!
In der Stadt wäre das einfach unmöglich; auf dem Lande können die Leute bei
aller Armseligkeit ihres Daseins immer noch bestehen, weil sie ihr eignes Hänschen
haben, und weil sie, ohne der Verachtung und der Polizei anheimzufallen, in einer
Kleidung oder Kleiduugslosigkeit umhergehe» dürfen, die in der Stadt entweder
nicht geduldet wird, oder die den Träger zum Vagabunden stempelt. Man wende
nicht ein, daß so niedriger Lohn in der Stadt nicht vorkommt. Dafür kommt
zeitweilige Arbeitslosigkeit vor, die schlimmer wirkt als ein zwar niedriger, aber
gleichmäßig übers ganze Jahr verteilter Lohn. Und was der städtische Arbeiter
mehr verdient, das fressen Wohnung, anständige Kleidung und „standesgemäße"
kleine Luxusbcdnrfnissc, nicht zu reden von der Verführung zu unnötigen Luxus
und zu mancherlei Erholungen, die gar keine Erholungen sind. Da die Nähe


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[0727] Litteratur Abcschützen zu dem Glauben verleiten, sein Name gewinne, wenn er mit lateinischen Buchstaben gemalt wird. Zum Schluß: gilt die Pietät den Leuten, die der deutschen Schrift den Krieg erklären, gar nichts? Es ist die Schrift, in der die Führer unsers Volks, unsre Denker und Dichter, Könige, Feldherrn und Staatsmänner, Luther und Kant, Goethe und Schiller, Kaiser Wilhelm, Moltke und Bismarck geschrieben haben! Was soll den Ausschlag geben: Nationalgefühl und Pietät, oder Liebedienerei gegen das Ausland und gelehrter Doktrinarismus? Es handelt sich um eine Sache, die enger mit dem Volksleben zusammenhängt, als mancher denkt; das konkrete Leben eines Volkes wird von andern Mächten bestimmt als von gelehrten Theorien und Doktrinen. Soll es wirklich dahin kommen, daß uns Goethe und Schiller in latei¬ nischer Schrift vorgesetzt werden, daß eine deutsche Bibel, ein deutsches Gesangbuch ein interessantes Stück beim Antiquitätenhändler sind? G. Br. Litteratur Arbeiterhaushalt. Mnx May, der schou vor sieben Jahren „zehn Arbeiterbudgets" veröffentlicht hat, giebt zwanzig weitere, deren Aufbringung ihm viel Mühe gemacht hat, heraus unter dem Titel: Wie der Arbeiter lebt. Arbeiterhaushaltungsrechnungen aus Stadt und Land (Berlin, Karl Heymann, 1897). Das Wertvolle in den vorliegenden ist der überzeugende Nachweis, daß der Arbeiter auf dem Lande nicht allein billiger, sondern auch besser lebt als in der Stadt, namentlich dann, wenn er ein wenig Landwirtschaft treiben kann, was in vielen Fallen möglich ist. Der Besitz eines Häuschens und ^einer Ziege, ein Vorrat von Schweinefleisch und Kartoffeln wehren nicht allein die sxtrizmg, noovWitus ab, sondern halten auch die Existenz aufrecht und schützen vor der Verlumpung, der die Familie bei sehr geringem Einkommen fast unvermeidlich anheimfallt, wenn der Ernährer längere Zeit krank liegt oder ans andern Ur¬ sachen die Arbeit verliert. Und so unsagbar kleine Einkommen, daß die Zurück¬ legung eines Notpfennigs schlechthin unmöglich ist, kommen allerdings vor. Eine der beschriebnen Familien muß mit 740 Mark im Jahre anstaunen, obwohl Mann und Frau stramm arbeite», und davon sollen nun sieben Personen leben! In der Stadt wäre das einfach unmöglich; auf dem Lande können die Leute bei aller Armseligkeit ihres Daseins immer noch bestehen, weil sie ihr eignes Hänschen haben, und weil sie, ohne der Verachtung und der Polizei anheimzufallen, in einer Kleidung oder Kleiduugslosigkeit umhergehe» dürfen, die in der Stadt entweder nicht geduldet wird, oder die den Träger zum Vagabunden stempelt. Man wende nicht ein, daß so niedriger Lohn in der Stadt nicht vorkommt. Dafür kommt zeitweilige Arbeitslosigkeit vor, die schlimmer wirkt als ein zwar niedriger, aber gleichmäßig übers ganze Jahr verteilter Lohn. Und was der städtische Arbeiter mehr verdient, das fressen Wohnung, anständige Kleidung und „standesgemäße" kleine Luxusbcdnrfnissc, nicht zu reden von der Verführung zu unnötigen Luxus und zu mancherlei Erholungen, die gar keine Erholungen sind. Da die Nähe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/727>, abgerufen am 05.01.2025.