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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Die Hlottenfrage in England ^882, bis 1M9
und in Deutschland ^8Y7 bis ^8Y8

le Mariner aller großen Kulturstaaten haben in der Neuzeit
Perioden gehabt, wo das Gefühl der Schwäche, das Bewußtsein,
überholt zu werden, oder die Gewißheit, nicht zeitgemäß fort¬
zuschreiten, erschreckend über sie kam. Solcher Erkenntnis folgte
in Staaten mit Kraftgefühl jedesmal eine außerordentliche
Anstrengung, ihre Seestreitkräfte zu steigern. Weit zurückgeblieben als See¬
macht waren die Vereinigten Staaten Nordamerikas, weil das Fehlen eines
ebenbürtigen Gegners in ihrer Nähe das Volk und die Negierung über die
Notwendigkeit des Besitzes einer starken Seemacht lange Zeit hinweggetäuscht
hatte. Jetzt wird das Versäumte in Eile nachgeholt, die moderne Flotte ent¬
steht, Amerika fühlt sich als Weltmacht, treibt Politik außerhalb des Landes
und ärgert das alte Europa mit Schutzzöllen. Ein zweites Weltreich, Rußland,
hat im Krimkrieg und später 1878 böse Erfahrungen mit dein Mangel einer
starken Flotte gemacht; seine eigentümlichen Verhältnisse und seine Regierungs-
form machen Flottenvergrößernugcu vom Vvlkswillen unabhängig. Nußland
vermehrt seit zwei Jahrzehnten andauernd seine Flotte und sorgt besonders
sür ihre Stärkung im Stillen Ozean, wo es bald der Mitbewerbung Japans
um die Vorherrschaft ausgesetzt sein wird. Japans Flottcnbcm steht ohne
Beispiel in der neuern Geschichte da und beweist das Kraftgefühl der jungen
Macht, sowie deren klare Erkenntnis der Gefahren, die aus der Übervölkerung
ihres Landes entstehen können. Diese treibt den Staat zur Vergrößerung
seines Landbesitzes und der Absatzmärkte für die Erzeugnisse seiner Industrie
und zwingt ihn, erhöhten Wert ans die Seemacht als Hauptmittel zur Er¬
langung von Kolonien und Welthandel zu legen. Italien hat seit Lissci seiue


Grenzboten I 18S8 8


Die Hlottenfrage in England ^882, bis 1M9
und in Deutschland ^8Y7 bis ^8Y8

le Mariner aller großen Kulturstaaten haben in der Neuzeit
Perioden gehabt, wo das Gefühl der Schwäche, das Bewußtsein,
überholt zu werden, oder die Gewißheit, nicht zeitgemäß fort¬
zuschreiten, erschreckend über sie kam. Solcher Erkenntnis folgte
in Staaten mit Kraftgefühl jedesmal eine außerordentliche
Anstrengung, ihre Seestreitkräfte zu steigern. Weit zurückgeblieben als See¬
macht waren die Vereinigten Staaten Nordamerikas, weil das Fehlen eines
ebenbürtigen Gegners in ihrer Nähe das Volk und die Negierung über die
Notwendigkeit des Besitzes einer starken Seemacht lange Zeit hinweggetäuscht
hatte. Jetzt wird das Versäumte in Eile nachgeholt, die moderne Flotte ent¬
steht, Amerika fühlt sich als Weltmacht, treibt Politik außerhalb des Landes
und ärgert das alte Europa mit Schutzzöllen. Ein zweites Weltreich, Rußland,
hat im Krimkrieg und später 1878 böse Erfahrungen mit dein Mangel einer
starken Flotte gemacht; seine eigentümlichen Verhältnisse und seine Regierungs-
form machen Flottenvergrößernugcu vom Vvlkswillen unabhängig. Nußland
vermehrt seit zwei Jahrzehnten andauernd seine Flotte und sorgt besonders
sür ihre Stärkung im Stillen Ozean, wo es bald der Mitbewerbung Japans
um die Vorherrschaft ausgesetzt sein wird. Japans Flottcnbcm steht ohne
Beispiel in der neuern Geschichte da und beweist das Kraftgefühl der jungen
Macht, sowie deren klare Erkenntnis der Gefahren, die aus der Übervölkerung
ihres Landes entstehen können. Diese treibt den Staat zur Vergrößerung
seines Landbesitzes und der Absatzmärkte für die Erzeugnisse seiner Industrie
und zwingt ihn, erhöhten Wert ans die Seemacht als Hauptmittel zur Er¬
langung von Kolonien und Welthandel zu legen. Italien hat seit Lissci seiue


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[0065] [Abbildung] Die Hlottenfrage in England ^882, bis 1M9 und in Deutschland ^8Y7 bis ^8Y8 le Mariner aller großen Kulturstaaten haben in der Neuzeit Perioden gehabt, wo das Gefühl der Schwäche, das Bewußtsein, überholt zu werden, oder die Gewißheit, nicht zeitgemäß fort¬ zuschreiten, erschreckend über sie kam. Solcher Erkenntnis folgte in Staaten mit Kraftgefühl jedesmal eine außerordentliche Anstrengung, ihre Seestreitkräfte zu steigern. Weit zurückgeblieben als See¬ macht waren die Vereinigten Staaten Nordamerikas, weil das Fehlen eines ebenbürtigen Gegners in ihrer Nähe das Volk und die Negierung über die Notwendigkeit des Besitzes einer starken Seemacht lange Zeit hinweggetäuscht hatte. Jetzt wird das Versäumte in Eile nachgeholt, die moderne Flotte ent¬ steht, Amerika fühlt sich als Weltmacht, treibt Politik außerhalb des Landes und ärgert das alte Europa mit Schutzzöllen. Ein zweites Weltreich, Rußland, hat im Krimkrieg und später 1878 böse Erfahrungen mit dein Mangel einer starken Flotte gemacht; seine eigentümlichen Verhältnisse und seine Regierungs- form machen Flottenvergrößernugcu vom Vvlkswillen unabhängig. Nußland vermehrt seit zwei Jahrzehnten andauernd seine Flotte und sorgt besonders sür ihre Stärkung im Stillen Ozean, wo es bald der Mitbewerbung Japans um die Vorherrschaft ausgesetzt sein wird. Japans Flottcnbcm steht ohne Beispiel in der neuern Geschichte da und beweist das Kraftgefühl der jungen Macht, sowie deren klare Erkenntnis der Gefahren, die aus der Übervölkerung ihres Landes entstehen können. Diese treibt den Staat zur Vergrößerung seines Landbesitzes und der Absatzmärkte für die Erzeugnisse seiner Industrie und zwingt ihn, erhöhten Wert ans die Seemacht als Hauptmittel zur Er¬ langung von Kolonien und Welthandel zu legen. Italien hat seit Lissci seiue Grenzboten I 18S8 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/65>, abgerufen am 05.01.2025.