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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Vor fünfzig Jahren

n diesen Tagen erneuert sich das Andenken an das "Sturmjahr"
1848/49 besonders lebhaft, an die Zeit, wo der von Frankreich
kommende Anstoß auch in Deutschland morsche Verhältnisse ohne
ernsten Widerstand umwarf, überall die Führer der parlamen¬
tarische" Opposition aus Staatsruder brachte, mit einem Schlage
eine ganze Anzahl populärer Freiheitswünsche erfüllte, die Neugestaltung , der
einzelstaatlicheu Verfassungen auf "breitester demokratischer Grundlage" ver¬
anlaßte und zugleich zu dem Versuche trieb, die Gesamtverfassung der Nation
auf parlamentarischem Wege zu erneuern, den lockern Staatenbund in einen
Bundesstaat umzuwandeln. Gleichwohl kann das Jahr 1898 kein Jubiläums¬
jahr sein, und keine nationale Feier wird den 18. März oder den 18. Mai 1843
oder den 28. März 1849 verherrlichen. Denn von jenen "Märzerrungenschaften"
blieben wenige erhalten, andre wurden erst später wieder erkämpft, und die
volkstümliche Einheitsbewegung scheiterte vollständig.

Es ist heute völlig klar, warum es so gekommen ist. Zunächst war es
eine kaum lösbare Aufgabe, zugleich die Verfassungen der Einzelstaaten und die
der Nation umzugestalten, oder wie man damals sagte, zugleich die "Freiheits¬
frage" und die "Einheitsfrage" zu lösen. Denn da die große Mehrzahl der
Meuscheu für schwere staatsrechtliche Fragen gar kein Verständnis hat, so
standen von Anfang an für die popnlüre Empfindung die "Frciheitsfrageu"
weitaus im Vordergrunde, und von einer nationalen Leidenschaft, wie sie vor
und nach. 1859 die Italiener beseelte, war in Deutschland 1848/49 keine Spur
vorhanden. An eine Vernichtung der bestehenden Einzelstaaten dachte kein
Mensch, auch die republikanische Minderheit nicht, und die populäre Weisheit
kam doch schließlich auf das berühmte Wort des biedern oldenburgischen
Bauern heraus: "Wir wollen die Republik, aber mit unserm Großherzog an


Grenzbote" I 1898 72


Vor fünfzig Jahren

n diesen Tagen erneuert sich das Andenken an das „Sturmjahr"
1848/49 besonders lebhaft, an die Zeit, wo der von Frankreich
kommende Anstoß auch in Deutschland morsche Verhältnisse ohne
ernsten Widerstand umwarf, überall die Führer der parlamen¬
tarische» Opposition aus Staatsruder brachte, mit einem Schlage
eine ganze Anzahl populärer Freiheitswünsche erfüllte, die Neugestaltung , der
einzelstaatlicheu Verfassungen auf „breitester demokratischer Grundlage" ver¬
anlaßte und zugleich zu dem Versuche trieb, die Gesamtverfassung der Nation
auf parlamentarischem Wege zu erneuern, den lockern Staatenbund in einen
Bundesstaat umzuwandeln. Gleichwohl kann das Jahr 1898 kein Jubiläums¬
jahr sein, und keine nationale Feier wird den 18. März oder den 18. Mai 1843
oder den 28. März 1849 verherrlichen. Denn von jenen „Märzerrungenschaften"
blieben wenige erhalten, andre wurden erst später wieder erkämpft, und die
volkstümliche Einheitsbewegung scheiterte vollständig.

Es ist heute völlig klar, warum es so gekommen ist. Zunächst war es
eine kaum lösbare Aufgabe, zugleich die Verfassungen der Einzelstaaten und die
der Nation umzugestalten, oder wie man damals sagte, zugleich die „Freiheits¬
frage" und die „Einheitsfrage" zu lösen. Denn da die große Mehrzahl der
Meuscheu für schwere staatsrechtliche Fragen gar kein Verständnis hat, so
standen von Anfang an für die popnlüre Empfindung die „Frciheitsfrageu"
weitaus im Vordergrunde, und von einer nationalen Leidenschaft, wie sie vor
und nach. 1859 die Italiener beseelte, war in Deutschland 1848/49 keine Spur
vorhanden. An eine Vernichtung der bestehenden Einzelstaaten dachte kein
Mensch, auch die republikanische Minderheit nicht, und die populäre Weisheit
kam doch schließlich auf das berühmte Wort des biedern oldenburgischen
Bauern heraus: „Wir wollen die Republik, aber mit unserm Großherzog an


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[0573] [Abbildung] Vor fünfzig Jahren n diesen Tagen erneuert sich das Andenken an das „Sturmjahr" 1848/49 besonders lebhaft, an die Zeit, wo der von Frankreich kommende Anstoß auch in Deutschland morsche Verhältnisse ohne ernsten Widerstand umwarf, überall die Führer der parlamen¬ tarische» Opposition aus Staatsruder brachte, mit einem Schlage eine ganze Anzahl populärer Freiheitswünsche erfüllte, die Neugestaltung , der einzelstaatlicheu Verfassungen auf „breitester demokratischer Grundlage" ver¬ anlaßte und zugleich zu dem Versuche trieb, die Gesamtverfassung der Nation auf parlamentarischem Wege zu erneuern, den lockern Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln. Gleichwohl kann das Jahr 1898 kein Jubiläums¬ jahr sein, und keine nationale Feier wird den 18. März oder den 18. Mai 1843 oder den 28. März 1849 verherrlichen. Denn von jenen „Märzerrungenschaften" blieben wenige erhalten, andre wurden erst später wieder erkämpft, und die volkstümliche Einheitsbewegung scheiterte vollständig. Es ist heute völlig klar, warum es so gekommen ist. Zunächst war es eine kaum lösbare Aufgabe, zugleich die Verfassungen der Einzelstaaten und die der Nation umzugestalten, oder wie man damals sagte, zugleich die „Freiheits¬ frage" und die „Einheitsfrage" zu lösen. Denn da die große Mehrzahl der Meuscheu für schwere staatsrechtliche Fragen gar kein Verständnis hat, so standen von Anfang an für die popnlüre Empfindung die „Frciheitsfrageu" weitaus im Vordergrunde, und von einer nationalen Leidenschaft, wie sie vor und nach. 1859 die Italiener beseelte, war in Deutschland 1848/49 keine Spur vorhanden. An eine Vernichtung der bestehenden Einzelstaaten dachte kein Mensch, auch die republikanische Minderheit nicht, und die populäre Weisheit kam doch schließlich auf das berühmte Wort des biedern oldenburgischen Bauern heraus: „Wir wollen die Republik, aber mit unserm Großherzog an Grenzbote» I 1898 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/573>, abgerufen am 05.01.2025.