Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Litteratur Wenn der Gedanke, der dieses Jahrbuch hervorgerufen hat, in vielen württem¬ Theoretische und praktische Ethik. Da heute bei uns im Reiche*) der Und auch beim Nachbar, "Am Dogma darf nicht gerüttelt werden!" rief der Vor¬
sitzende des Gerichtshofs zu Graz im Prozeß Wille, als von der Hölle die Rede war. Litteratur Wenn der Gedanke, der dieses Jahrbuch hervorgerufen hat, in vielen württem¬ Theoretische und praktische Ethik. Da heute bei uns im Reiche*) der Und auch beim Nachbar, „Am Dogma darf nicht gerüttelt werden!" rief der Vor¬
sitzende des Gerichtshofs zu Graz im Prozeß Wille, als von der Hölle die Rede war. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0401" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227303"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1428"> Wenn der Gedanke, der dieses Jahrbuch hervorgerufen hat, in vielen württem¬<lb/> bergischen Herzen nachklingt, werden sich vielleicht auch die Herren Künstler dazu<lb/> bequemen, besseres aus ihren Mappen hervorzusuchen, als es das erstemal ge¬<lb/> schehen ist.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Theoretische und praktische Ethik.</head> <p xml:id="ID_1429" next="#ID_1430"> Da heute bei uns im Reiche*) der<lb/> Zug auss positiv Kirchliche geht, so mag Richard Rothe wohl nur in den geist¬<lb/> lichen Kreisen noch stille Verehrer haben. Für den vereinzelten Denker bleibt der<lb/> berühmte Ethiker, der ein ganz selbständiger Geist war, eine höchst anziehende Er¬<lb/> scheinung. Mit großem Interesse haben wir die Übersicht der Theologischen<lb/> Ethik gelesen, die or. Rudolf Ahrendts (Bremen. M. Heinsius Nachfolger, 1896)<lb/> aus dem handschriftlichen Nachlaß Rothes herausgegeben hat. Seine Ethik ist ein<lb/> kühnes spekulatives Gebäude, das eigentlich mit der philosophischen Glaubenslehre<lb/> zusammenfällt. Vom Gottesgefuhl im Menschen ausgehend, konstruirt er den<lb/> Gottesbegriff und untersucht dann, wie sich Gott „sein kosmisches Sein" schafft.<lb/> Selbstverständlich ist ihm nur der Geist „schlechthin volles Sein" und eine für sich<lb/> selbst bestehende Natur gar nicht denkbar. Ähnlich wie in der alten Gnostik schafft<lb/> sich Gott sein kosmisches Sein in einer Stufenfolge von Schöpfnngskreisen, Welt¬<lb/> sphären oder Himmeln, und dabei wird nun ein mehr kühner als klarer Begriff<lb/> der Materie entwickelt. „Der weitere Verlauf der Skala der Kreaturstufen stellt<lb/> sich folgendcrgestcilt heraus! Gott differenzirt die reine Materie oder die Äonenwelt<lb/> in die in reine Indifferenz in ihr zusammengeschlossenen Elemente, Raum und Zeit,<lb/> und bezieht diese letztern gegenseitig auf einander und bestimmt sie hierdurch gegen¬<lb/> seitig durch einander. Der durch die Zeit bestimmte Raum ist die Ausdehnung,<lb/> die durch den Raum bestimmte Zeit die Bewegung, die unmittelbare Zusammen¬<lb/> fassung, mithin die Indifferenz beider aber der Äther (das Chaos). Indem dieser<lb/> wieder auf dieselbige Weise in sich indifferenzirt wird, ist die durch die Bewegung<lb/> bestimmte Ausdehnung die Attraktion und Repulsion (die Welt der Atome), die<lb/> durch die Ausdehnung bestimmte Bewegung die Schwere, die unmittelbare Zu¬<lb/> sammenfassung und mithin die Indifferenz dieser beiden aber das Weltgebäude, die<lb/> mechanische, d. i. astronomische Natur" (S. 69). Durch die Fähigkeit, sich selbst<lb/> zu bestimmen, wird das Menschentier eine Person, ein sittliches Wesen; seine sitt¬<lb/> liche Aufgabe besteht darin, sich die Natur zuzueignen, und der normale Lebens¬<lb/> prozeß verläuft als ein Prozeß der Erzeugung von Geist. Das sittliche Gute ist<lb/> die Übereinstimmung des wirkliche» Menschen mit dem Begriff des Menschen. Daß<lb/> das bloße Menschentier noch keine Begriffe hat, also anch nicht den der Mensch¬<lb/> heit, daß ihm die Begriffe erst durch die Erziehung beigebracht werden, daß der<lb/> erste Mensch keiner Erziehung teilhaft werden konnte, „auch nicht durch Gott," daß<lb/> er also ganz unter der Herrschaft der Sinnlichkeit stehen, und daß die Entwicklung<lb/> des Menschengeschlechts zunächst im Widerspruch mit der Idee der Menschheit ver¬<lb/> lausen mußte (S. 219), das verstehen wir, dagegen verstehen wir nicht, wie diese<lb/> unvermeidliche Abweichung dem Menschen von Gott als Schuld angerechnet werden<lb/> konnte (S. 211), und die „Berührung" der sündigen Menschheit „mit dem bösen<lb/> Geisterreich" kann überhaupt nicht „spekulativ" abgeleitet werden, sondern ist ganz<lb/> mechanisch durch den Kirchenglauben in das System hineingekommen. Wie denn<lb/> Rothe überhaupt in naher Beziehung zu Kant, Fichte und Hegel steht, so ist ihm</p><lb/> <note xml:id="FID_40" place="foot"> Und auch beim Nachbar, „Am Dogma darf nicht gerüttelt werden!" rief der Vor¬<lb/> sitzende des Gerichtshofs zu Graz im Prozeß Wille, als von der Hölle die Rede war.</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0401]
Litteratur
Wenn der Gedanke, der dieses Jahrbuch hervorgerufen hat, in vielen württem¬
bergischen Herzen nachklingt, werden sich vielleicht auch die Herren Künstler dazu
bequemen, besseres aus ihren Mappen hervorzusuchen, als es das erstemal ge¬
schehen ist.
Theoretische und praktische Ethik. Da heute bei uns im Reiche*) der
Zug auss positiv Kirchliche geht, so mag Richard Rothe wohl nur in den geist¬
lichen Kreisen noch stille Verehrer haben. Für den vereinzelten Denker bleibt der
berühmte Ethiker, der ein ganz selbständiger Geist war, eine höchst anziehende Er¬
scheinung. Mit großem Interesse haben wir die Übersicht der Theologischen
Ethik gelesen, die or. Rudolf Ahrendts (Bremen. M. Heinsius Nachfolger, 1896)
aus dem handschriftlichen Nachlaß Rothes herausgegeben hat. Seine Ethik ist ein
kühnes spekulatives Gebäude, das eigentlich mit der philosophischen Glaubenslehre
zusammenfällt. Vom Gottesgefuhl im Menschen ausgehend, konstruirt er den
Gottesbegriff und untersucht dann, wie sich Gott „sein kosmisches Sein" schafft.
Selbstverständlich ist ihm nur der Geist „schlechthin volles Sein" und eine für sich
selbst bestehende Natur gar nicht denkbar. Ähnlich wie in der alten Gnostik schafft
sich Gott sein kosmisches Sein in einer Stufenfolge von Schöpfnngskreisen, Welt¬
sphären oder Himmeln, und dabei wird nun ein mehr kühner als klarer Begriff
der Materie entwickelt. „Der weitere Verlauf der Skala der Kreaturstufen stellt
sich folgendcrgestcilt heraus! Gott differenzirt die reine Materie oder die Äonenwelt
in die in reine Indifferenz in ihr zusammengeschlossenen Elemente, Raum und Zeit,
und bezieht diese letztern gegenseitig auf einander und bestimmt sie hierdurch gegen¬
seitig durch einander. Der durch die Zeit bestimmte Raum ist die Ausdehnung,
die durch den Raum bestimmte Zeit die Bewegung, die unmittelbare Zusammen¬
fassung, mithin die Indifferenz beider aber der Äther (das Chaos). Indem dieser
wieder auf dieselbige Weise in sich indifferenzirt wird, ist die durch die Bewegung
bestimmte Ausdehnung die Attraktion und Repulsion (die Welt der Atome), die
durch die Ausdehnung bestimmte Bewegung die Schwere, die unmittelbare Zu¬
sammenfassung und mithin die Indifferenz dieser beiden aber das Weltgebäude, die
mechanische, d. i. astronomische Natur" (S. 69). Durch die Fähigkeit, sich selbst
zu bestimmen, wird das Menschentier eine Person, ein sittliches Wesen; seine sitt¬
liche Aufgabe besteht darin, sich die Natur zuzueignen, und der normale Lebens¬
prozeß verläuft als ein Prozeß der Erzeugung von Geist. Das sittliche Gute ist
die Übereinstimmung des wirkliche» Menschen mit dem Begriff des Menschen. Daß
das bloße Menschentier noch keine Begriffe hat, also anch nicht den der Mensch¬
heit, daß ihm die Begriffe erst durch die Erziehung beigebracht werden, daß der
erste Mensch keiner Erziehung teilhaft werden konnte, „auch nicht durch Gott," daß
er also ganz unter der Herrschaft der Sinnlichkeit stehen, und daß die Entwicklung
des Menschengeschlechts zunächst im Widerspruch mit der Idee der Menschheit ver¬
lausen mußte (S. 219), das verstehen wir, dagegen verstehen wir nicht, wie diese
unvermeidliche Abweichung dem Menschen von Gott als Schuld angerechnet werden
konnte (S. 211), und die „Berührung" der sündigen Menschheit „mit dem bösen
Geisterreich" kann überhaupt nicht „spekulativ" abgeleitet werden, sondern ist ganz
mechanisch durch den Kirchenglauben in das System hineingekommen. Wie denn
Rothe überhaupt in naher Beziehung zu Kant, Fichte und Hegel steht, so ist ihm
Und auch beim Nachbar, „Am Dogma darf nicht gerüttelt werden!" rief der Vor¬
sitzende des Gerichtshofs zu Graz im Prozeß Wille, als von der Hölle die Rede war.
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