Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches <L. Kempin von(in er Lordkanzler von England hat sich kürzlich in einer Rede über Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches <L. Kempin von(in er Lordkanzler von England hat sich kürzlich in einer Rede über <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225648"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341865_225585/figures/grenzboten_341865_225585_225648_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches<lb/><note type="byline"> <L. Kempin </note> von(in</head><lb/> <p xml:id="ID_148" next="#ID_149"> er Lordkanzler von England hat sich kürzlich in einer Rede über<lb/> das neue deutsche Handelsgesetzbuch etwas zweifelnd geäußert.<lb/> Es erscheine ihm, sagte er, mindestens fraglich, ob diese Kodifi¬<lb/> kation das ganze Gebiet des deutschen Handelsrechts umfasse,<lb/> und wies dabei mit einiger Befriedigung auf England, wo trotz<lb/> vielfacher Anregung der Versuch zu einer erschöpfenden Zusammenfassung des<lb/> Rechts noch nicht gemacht worden ist. Der Lordkanzler hat Recht und Unrecht.<lb/> Sicherlich unterschätzt er die Nützlichkeit der Kodifikation, wenn er sie verwirft,<lb/> weil sie niemals erschöpfend sein kann; man muß sich aber auch darüber klar<lb/> werden, daß unsre modernen Gesetzbücher in der That große Partien des Rechts<lb/> ungeschrieben lassen, daß sie, gerade weil man der fortschreitenden Entwicklung<lb/> Raum lassen will, die Kasuistik möglichst vermeiden und nur die Umrisse der<lb/> Rechtseinrichtungen skizziren. Man gebe sich darüber keinen Täuschungen hin:<lb/> je internationaler sich unsre Beziehungen gestalten, je weiter der Gesetzgeber<lb/> seine Gesichtspunkte nehmen muß, desto unfehlbarer treiben wir dem englischen<lb/> Rechtszustand entgegen. Daraus folgt zweierlei: 1. Wo dem Richter, wie bei<lb/> einer solchen Gesetzgebung, ein so großer Spielraum gegeben ist, muß die<lb/> Bildungsstufe der Richter ungleich höher sein als da, wo es sich um die<lb/> Anwendung fest gefügter, scharf umgrenzter Rechtssütze handelt. Hier kommt<lb/> der Richter mit bloß formal juristischem Wissen nicht mehr aus, er muß<lb/> allgemeiner, namentlich auch volkswirtschaftlich und philosophisch gebildet sein.<lb/> Mit dem Wegfall des Gemeinen Rechts wird ja auch das ganze Hilfsmaterial<lb/> des Oorxus juris mehr oder weniger außer Betracht kommen. 2. Die Billig¬<lb/> keitsjustiz wird einen weit größern Raum einnehmen als heute, wo die Sonder¬<lb/> gesetzgebung vielfach die Rechtsbestimmungen bis ins einzelste ausgearbeitet<lb/> hat. Die „Imponderabilien" der guten oder schlechten Absicht, des Wollens<lb/> gegenüber der Erscheinung müssen zu würdigen versucht und in die Juris¬<lb/> prudenz eingeführt werden. Mit andern Worten: das Recht giebt nur noch<lb/> die Umrisse der herrschenden Grundsätze, die Sittenlehre ihren Inhalt an.<lb/> So stehen wir mit der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs am Anfang</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
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Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches
<L. Kempin von(in
er Lordkanzler von England hat sich kürzlich in einer Rede über
das neue deutsche Handelsgesetzbuch etwas zweifelnd geäußert.
Es erscheine ihm, sagte er, mindestens fraglich, ob diese Kodifi¬
kation das ganze Gebiet des deutschen Handelsrechts umfasse,
und wies dabei mit einiger Befriedigung auf England, wo trotz
vielfacher Anregung der Versuch zu einer erschöpfenden Zusammenfassung des
Rechts noch nicht gemacht worden ist. Der Lordkanzler hat Recht und Unrecht.
Sicherlich unterschätzt er die Nützlichkeit der Kodifikation, wenn er sie verwirft,
weil sie niemals erschöpfend sein kann; man muß sich aber auch darüber klar
werden, daß unsre modernen Gesetzbücher in der That große Partien des Rechts
ungeschrieben lassen, daß sie, gerade weil man der fortschreitenden Entwicklung
Raum lassen will, die Kasuistik möglichst vermeiden und nur die Umrisse der
Rechtseinrichtungen skizziren. Man gebe sich darüber keinen Täuschungen hin:
je internationaler sich unsre Beziehungen gestalten, je weiter der Gesetzgeber
seine Gesichtspunkte nehmen muß, desto unfehlbarer treiben wir dem englischen
Rechtszustand entgegen. Daraus folgt zweierlei: 1. Wo dem Richter, wie bei
einer solchen Gesetzgebung, ein so großer Spielraum gegeben ist, muß die
Bildungsstufe der Richter ungleich höher sein als da, wo es sich um die
Anwendung fest gefügter, scharf umgrenzter Rechtssütze handelt. Hier kommt
der Richter mit bloß formal juristischem Wissen nicht mehr aus, er muß
allgemeiner, namentlich auch volkswirtschaftlich und philosophisch gebildet sein.
Mit dem Wegfall des Gemeinen Rechts wird ja auch das ganze Hilfsmaterial
des Oorxus juris mehr oder weniger außer Betracht kommen. 2. Die Billig¬
keitsjustiz wird einen weit größern Raum einnehmen als heute, wo die Sonder¬
gesetzgebung vielfach die Rechtsbestimmungen bis ins einzelste ausgearbeitet
hat. Die „Imponderabilien" der guten oder schlechten Absicht, des Wollens
gegenüber der Erscheinung müssen zu würdigen versucht und in die Juris¬
prudenz eingeführt werden. Mit andern Worten: das Recht giebt nur noch
die Umrisse der herrschenden Grundsätze, die Sittenlehre ihren Inhalt an.
So stehen wir mit der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs am Anfang
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