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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

2

Und warum alle diese Schäden und Unbequemlichkeiten? Wozu überhaupt
das neue Gesetz? Professor Gierke in Berlin hat zu Anfang vorigen Jahres
in einem Aufsatze der Tägliche., Rundschau uoch einmal zusammengefaßt,
was ihm an dem damaligen Entwurf anstößig erschien. Es wäre selbstver¬
ständlich mindestens verspätet, jetzt noch, nachdem die Entscheidung gefallen ist,
im einzelnen auf seine Begründung einzugehen. Aber um einen richtigen
Standpunkt gegenüber dem bürgerlichen Gesetzbuch zu gewinnen, interessirt uns
auch heute noch der grundsätzliche Ausgangspunkt Gierkes bei seiner Verur¬
teilung des Entwurfs.

Gierkes Ideal eines deutschen Rechts kann seinen Zauber auf niemand
verfehlen, der auf deutsche Gesinnung Anspruch machen will, und es soll ohne
weiteres zugegeben werden: es kann gar nicht anders sein, als daß, wer das
bürgerliche Gesetzbuch an einem Ideal des deutschen Rechts mißt, die bitterste
Enttäuschung erleben muß. Ein Recht, dem Laien gleich verständlich,
vertraut und lieb, wie sür den Richter brauchbar und für den Gelehrten
fruchtbar zu geistigem Weitcrschaffen -- ohne Zweifels läßt das bürgerliche
Gesetzbuch gerade in dem ersten Punkte auf den ersten Blick viel zu wünschen
übrig. Aber wo sollte ein solches Recht heute herkommen? Das Recht ist
niemals das Erzeugnis eines Einzelnen, soudern immer das Ergebnis einer
langen Entwicklung. Bei uns sind seit einem halben Jahrtausend Rechts¬
wissenschaft und Rechtsprechung Wege gegangen, die der Volksseele fremd
waren; seit einem Jahrhundert haben sich noch dazu in dem größten Rechts¬
gebiete Deutschlands, in dem des Allgemeinen Landrechts, Rechtswissenschaft
und Rechtsprechung voneinander gesondert, denn es ist bekannt, daß der
eigentlichen Rechtswissenschaft das Lambrecht fast durchweg noch weniger als
wie ein Stiefkind gegolten hat, daß die Entwicklung des Landrechts aus¬
schließlich der Praxis anheimgefallen ist, die ohne jede nennenswerte Unter¬
stützung von germanistischer Seite gar nicht anders konnte, als immer und
überall an das römische Recht anzuknüpfen. Das einzige heute noch in Betracht
kommende Lehrbuch, das die laudrechtliche Praxis einem Gelehrten verdankt,
ist von einem Romanisten (Dernburg) geschrieben! Wie sollte unter diesen
Umständen heute eine Verwirklichung jenes Ideals möglich sein? Die einzig
mögliche Frage ist vielmehr die, ob uns das bürgerliche Gesetzbuch dem Ideal-
rechte nähert, ob es gegenüber dem bestehenden Rechte eine Verbesserung be¬
deutet. Wer diese Frage nicht verneinen kann und gleichwohl an der Ver¬
werfung des bürgerlichen Gesetzbuchs festhält, der setzt sein Verhalten dem
bedenklichen Vergleich mit einem Vorgang aus, über den die Geschichte bereits



Auch als Sondcrabdruck schon in zweiter Auflage erschienen unter dem Titel: "Das
rgerliche Gesetzbuch und der deutsche Reichstag" (Berlin, Karl Heumcmns Verlag).
Einiges von der deutschen Rechtseinheit

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Und warum alle diese Schäden und Unbequemlichkeiten? Wozu überhaupt
das neue Gesetz? Professor Gierke in Berlin hat zu Anfang vorigen Jahres
in einem Aufsatze der Tägliche., Rundschau uoch einmal zusammengefaßt,
was ihm an dem damaligen Entwurf anstößig erschien. Es wäre selbstver¬
ständlich mindestens verspätet, jetzt noch, nachdem die Entscheidung gefallen ist,
im einzelnen auf seine Begründung einzugehen. Aber um einen richtigen
Standpunkt gegenüber dem bürgerlichen Gesetzbuch zu gewinnen, interessirt uns
auch heute noch der grundsätzliche Ausgangspunkt Gierkes bei seiner Verur¬
teilung des Entwurfs.

Gierkes Ideal eines deutschen Rechts kann seinen Zauber auf niemand
verfehlen, der auf deutsche Gesinnung Anspruch machen will, und es soll ohne
weiteres zugegeben werden: es kann gar nicht anders sein, als daß, wer das
bürgerliche Gesetzbuch an einem Ideal des deutschen Rechts mißt, die bitterste
Enttäuschung erleben muß. Ein Recht, dem Laien gleich verständlich,
vertraut und lieb, wie sür den Richter brauchbar und für den Gelehrten
fruchtbar zu geistigem Weitcrschaffen — ohne Zweifels läßt das bürgerliche
Gesetzbuch gerade in dem ersten Punkte auf den ersten Blick viel zu wünschen
übrig. Aber wo sollte ein solches Recht heute herkommen? Das Recht ist
niemals das Erzeugnis eines Einzelnen, soudern immer das Ergebnis einer
langen Entwicklung. Bei uns sind seit einem halben Jahrtausend Rechts¬
wissenschaft und Rechtsprechung Wege gegangen, die der Volksseele fremd
waren; seit einem Jahrhundert haben sich noch dazu in dem größten Rechts¬
gebiete Deutschlands, in dem des Allgemeinen Landrechts, Rechtswissenschaft
und Rechtsprechung voneinander gesondert, denn es ist bekannt, daß der
eigentlichen Rechtswissenschaft das Lambrecht fast durchweg noch weniger als
wie ein Stiefkind gegolten hat, daß die Entwicklung des Landrechts aus¬
schließlich der Praxis anheimgefallen ist, die ohne jede nennenswerte Unter¬
stützung von germanistischer Seite gar nicht anders konnte, als immer und
überall an das römische Recht anzuknüpfen. Das einzige heute noch in Betracht
kommende Lehrbuch, das die laudrechtliche Praxis einem Gelehrten verdankt,
ist von einem Romanisten (Dernburg) geschrieben! Wie sollte unter diesen
Umständen heute eine Verwirklichung jenes Ideals möglich sein? Die einzig
mögliche Frage ist vielmehr die, ob uns das bürgerliche Gesetzbuch dem Ideal-
rechte nähert, ob es gegenüber dem bestehenden Rechte eine Verbesserung be¬
deutet. Wer diese Frage nicht verneinen kann und gleichwohl an der Ver¬
werfung des bürgerlichen Gesetzbuchs festhält, der setzt sein Verhalten dem
bedenklichen Vergleich mit einem Vorgang aus, über den die Geschichte bereits



Auch als Sondcrabdruck schon in zweiter Auflage erschienen unter dem Titel: „Das
rgerliche Gesetzbuch und der deutsche Reichstag" (Berlin, Karl Heumcmns Verlag).
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[0503] Einiges von der deutschen Rechtseinheit 2 Und warum alle diese Schäden und Unbequemlichkeiten? Wozu überhaupt das neue Gesetz? Professor Gierke in Berlin hat zu Anfang vorigen Jahres in einem Aufsatze der Tägliche., Rundschau uoch einmal zusammengefaßt, was ihm an dem damaligen Entwurf anstößig erschien. Es wäre selbstver¬ ständlich mindestens verspätet, jetzt noch, nachdem die Entscheidung gefallen ist, im einzelnen auf seine Begründung einzugehen. Aber um einen richtigen Standpunkt gegenüber dem bürgerlichen Gesetzbuch zu gewinnen, interessirt uns auch heute noch der grundsätzliche Ausgangspunkt Gierkes bei seiner Verur¬ teilung des Entwurfs. Gierkes Ideal eines deutschen Rechts kann seinen Zauber auf niemand verfehlen, der auf deutsche Gesinnung Anspruch machen will, und es soll ohne weiteres zugegeben werden: es kann gar nicht anders sein, als daß, wer das bürgerliche Gesetzbuch an einem Ideal des deutschen Rechts mißt, die bitterste Enttäuschung erleben muß. Ein Recht, dem Laien gleich verständlich, vertraut und lieb, wie sür den Richter brauchbar und für den Gelehrten fruchtbar zu geistigem Weitcrschaffen — ohne Zweifels läßt das bürgerliche Gesetzbuch gerade in dem ersten Punkte auf den ersten Blick viel zu wünschen übrig. Aber wo sollte ein solches Recht heute herkommen? Das Recht ist niemals das Erzeugnis eines Einzelnen, soudern immer das Ergebnis einer langen Entwicklung. Bei uns sind seit einem halben Jahrtausend Rechts¬ wissenschaft und Rechtsprechung Wege gegangen, die der Volksseele fremd waren; seit einem Jahrhundert haben sich noch dazu in dem größten Rechts¬ gebiete Deutschlands, in dem des Allgemeinen Landrechts, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung voneinander gesondert, denn es ist bekannt, daß der eigentlichen Rechtswissenschaft das Lambrecht fast durchweg noch weniger als wie ein Stiefkind gegolten hat, daß die Entwicklung des Landrechts aus¬ schließlich der Praxis anheimgefallen ist, die ohne jede nennenswerte Unter¬ stützung von germanistischer Seite gar nicht anders konnte, als immer und überall an das römische Recht anzuknüpfen. Das einzige heute noch in Betracht kommende Lehrbuch, das die laudrechtliche Praxis einem Gelehrten verdankt, ist von einem Romanisten (Dernburg) geschrieben! Wie sollte unter diesen Umständen heute eine Verwirklichung jenes Ideals möglich sein? Die einzig mögliche Frage ist vielmehr die, ob uns das bürgerliche Gesetzbuch dem Ideal- rechte nähert, ob es gegenüber dem bestehenden Rechte eine Verbesserung be¬ deutet. Wer diese Frage nicht verneinen kann und gleichwohl an der Ver¬ werfung des bürgerlichen Gesetzbuchs festhält, der setzt sein Verhalten dem bedenklichen Vergleich mit einem Vorgang aus, über den die Geschichte bereits Auch als Sondcrabdruck schon in zweiter Auflage erschienen unter dem Titel: „Das rgerliche Gesetzbuch und der deutsche Reichstag" (Berlin, Karl Heumcmns Verlag).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/503>, abgerufen am 27.12.2024.