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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Pietisterte nicht (denn sein Frömmeln war wieder etwas andres und ungleich
Frischeres und Reineres, gewissermaßen etwas handwerklich Praktisches); er
brummte und grunzte manchmal, aber er pfiff und näselte nie." Der langen
Rede kurzer Sinn ist, wie mir scheint: er war gar kein Reaktionär und kein
Frömmler, sondern ein Mann, ein Mann, der seine Heimat und sein Volk
liebte und es auf seine Weise glücklich sehen wollte, was sein gutes Recht war.
Parteipolitiker werden freilich nie begreifen, daß in unsers Vaters Hause viele
Wohnungen sind. Gottfried Keller aber hat dreißig Jahre später in seinem
letzten Werke "Martin Salander" den guten Kampf Jeremias Gotthelfs zum
Teil wieder aufgenommen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bei Wasser und Brot. Es ist eine bekannte Thatsache, daß bei Beginn
des Winters, wenn der Aufenthalt im Freien anfängt unbehaglich zu werden, der
"Verkehr" in den sogenannten "Gefangnenhotels" merklich zunimmt, und das; in
den wirklich harten Wintermonaten die Gefängnisse meistens so angefüllt sind, daß
sür weitere "Gäste" kaum noch Platz ist. Diese Thatsache erklärt sich zum guten
Teil daraus, daß die Zahl der wirklich Arbeitslosen, d. h. derer, die ernstlich nach
Arbeit suchen, aber keine finden, im Winter stets größer ist als im Sommer und
daher viele in der traurigen Lüge sind, in den Wintermonaten ihren Unterhalt,
statt durch Arbeit, auf andre Weise, sei es durch Betteln oder auch durch Stehlen
zu suchen. Die hierdurch entstehende Zunahme der strafbaren Handlungen hat
selbstverständlich auch einen stärkern Besuch der Gefängnisse zur Folge. Außerdem
giebt es aber auch eine Menge von Leuten, die ebenfalls betteln, sich herumtreiben,
stehlen usw., aber nicht aus wirklicher Not, sondern nur zu dem Zwecke, Unter¬
kunft im Gefängnis zu finden. Man kann es aber auch wirklich einem Landstreicher,
der nicht ein besonders zartes Ehrgefühl hat, nicht verdenken, wenn er bei rauhem,
kaltem Wetter, womöglich Schneetreiben, den Aufeuthalt in einer, man kann wirklich
sagen, Staatswärme- und Speisehalle dem Hungern und Frieren auf der Landstraße
vorzieht. Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, im Winter in eine Gefangnenzelle
einen Blick zu thun und die friedlichen und zufriedner Gesichter der Bettler und
^cigabunden zu sehen, die hier ihr gutes Unterkommen gefunden haben und es
und nach einem kurzen Marsch vom vorigen "Platze" nach dem jetzigen wohl sein
assen in dem warmen, saubern Raum, bei warmer Kost und, wenn ihnen das
^kuck hold ist, auch in angenehmer Gesellschaft von "Kollegen," der wundert sich
gar nicht über die Schar von Bettlern, die im Winter von Haus zu Haus rennen,
w der Hoffnung, endlich einmal einem Polizisten oder Gendarmen in die Arme
on laufen.

Ein paar kleine Geschichten mögen zum Beweise dafür dienen, daß der Auf¬
enthalt in den Gefängnissen von den Vagabunden sehr begehrt wird und von ihrem
"randpunkte aus auch wohl durchaus begehrenswert ist.


Grenzboten III 1897 ^2
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Pietisterte nicht (denn sein Frömmeln war wieder etwas andres und ungleich
Frischeres und Reineres, gewissermaßen etwas handwerklich Praktisches); er
brummte und grunzte manchmal, aber er pfiff und näselte nie." Der langen
Rede kurzer Sinn ist, wie mir scheint: er war gar kein Reaktionär und kein
Frömmler, sondern ein Mann, ein Mann, der seine Heimat und sein Volk
liebte und es auf seine Weise glücklich sehen wollte, was sein gutes Recht war.
Parteipolitiker werden freilich nie begreifen, daß in unsers Vaters Hause viele
Wohnungen sind. Gottfried Keller aber hat dreißig Jahre später in seinem
letzten Werke „Martin Salander" den guten Kampf Jeremias Gotthelfs zum
Teil wieder aufgenommen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bei Wasser und Brot. Es ist eine bekannte Thatsache, daß bei Beginn
des Winters, wenn der Aufenthalt im Freien anfängt unbehaglich zu werden, der
„Verkehr" in den sogenannten „Gefangnenhotels" merklich zunimmt, und das; in
den wirklich harten Wintermonaten die Gefängnisse meistens so angefüllt sind, daß
sür weitere „Gäste" kaum noch Platz ist. Diese Thatsache erklärt sich zum guten
Teil daraus, daß die Zahl der wirklich Arbeitslosen, d. h. derer, die ernstlich nach
Arbeit suchen, aber keine finden, im Winter stets größer ist als im Sommer und
daher viele in der traurigen Lüge sind, in den Wintermonaten ihren Unterhalt,
statt durch Arbeit, auf andre Weise, sei es durch Betteln oder auch durch Stehlen
zu suchen. Die hierdurch entstehende Zunahme der strafbaren Handlungen hat
selbstverständlich auch einen stärkern Besuch der Gefängnisse zur Folge. Außerdem
giebt es aber auch eine Menge von Leuten, die ebenfalls betteln, sich herumtreiben,
stehlen usw., aber nicht aus wirklicher Not, sondern nur zu dem Zwecke, Unter¬
kunft im Gefängnis zu finden. Man kann es aber auch wirklich einem Landstreicher,
der nicht ein besonders zartes Ehrgefühl hat, nicht verdenken, wenn er bei rauhem,
kaltem Wetter, womöglich Schneetreiben, den Aufeuthalt in einer, man kann wirklich
sagen, Staatswärme- und Speisehalle dem Hungern und Frieren auf der Landstraße
vorzieht. Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, im Winter in eine Gefangnenzelle
einen Blick zu thun und die friedlichen und zufriedner Gesichter der Bettler und
^cigabunden zu sehen, die hier ihr gutes Unterkommen gefunden haben und es
und nach einem kurzen Marsch vom vorigen „Platze" nach dem jetzigen wohl sein
assen in dem warmen, saubern Raum, bei warmer Kost und, wenn ihnen das
^kuck hold ist, auch in angenehmer Gesellschaft von „Kollegen," der wundert sich
gar nicht über die Schar von Bettlern, die im Winter von Haus zu Haus rennen,
w der Hoffnung, endlich einmal einem Polizisten oder Gendarmen in die Arme
on laufen.

Ein paar kleine Geschichten mögen zum Beweise dafür dienen, daß der Auf¬
enthalt in den Gefängnissen von den Vagabunden sehr begehrt wird und von ihrem
«randpunkte aus auch wohl durchaus begehrenswert ist.


Grenzboten III 1897 ^2
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[0337] Maßgebliches und Unmaßgebliches Pietisterte nicht (denn sein Frömmeln war wieder etwas andres und ungleich Frischeres und Reineres, gewissermaßen etwas handwerklich Praktisches); er brummte und grunzte manchmal, aber er pfiff und näselte nie." Der langen Rede kurzer Sinn ist, wie mir scheint: er war gar kein Reaktionär und kein Frömmler, sondern ein Mann, ein Mann, der seine Heimat und sein Volk liebte und es auf seine Weise glücklich sehen wollte, was sein gutes Recht war. Parteipolitiker werden freilich nie begreifen, daß in unsers Vaters Hause viele Wohnungen sind. Gottfried Keller aber hat dreißig Jahre später in seinem letzten Werke „Martin Salander" den guten Kampf Jeremias Gotthelfs zum Teil wieder aufgenommen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Bei Wasser und Brot. Es ist eine bekannte Thatsache, daß bei Beginn des Winters, wenn der Aufenthalt im Freien anfängt unbehaglich zu werden, der „Verkehr" in den sogenannten „Gefangnenhotels" merklich zunimmt, und das; in den wirklich harten Wintermonaten die Gefängnisse meistens so angefüllt sind, daß sür weitere „Gäste" kaum noch Platz ist. Diese Thatsache erklärt sich zum guten Teil daraus, daß die Zahl der wirklich Arbeitslosen, d. h. derer, die ernstlich nach Arbeit suchen, aber keine finden, im Winter stets größer ist als im Sommer und daher viele in der traurigen Lüge sind, in den Wintermonaten ihren Unterhalt, statt durch Arbeit, auf andre Weise, sei es durch Betteln oder auch durch Stehlen zu suchen. Die hierdurch entstehende Zunahme der strafbaren Handlungen hat selbstverständlich auch einen stärkern Besuch der Gefängnisse zur Folge. Außerdem giebt es aber auch eine Menge von Leuten, die ebenfalls betteln, sich herumtreiben, stehlen usw., aber nicht aus wirklicher Not, sondern nur zu dem Zwecke, Unter¬ kunft im Gefängnis zu finden. Man kann es aber auch wirklich einem Landstreicher, der nicht ein besonders zartes Ehrgefühl hat, nicht verdenken, wenn er bei rauhem, kaltem Wetter, womöglich Schneetreiben, den Aufeuthalt in einer, man kann wirklich sagen, Staatswärme- und Speisehalle dem Hungern und Frieren auf der Landstraße vorzieht. Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, im Winter in eine Gefangnenzelle einen Blick zu thun und die friedlichen und zufriedner Gesichter der Bettler und ^cigabunden zu sehen, die hier ihr gutes Unterkommen gefunden haben und es und nach einem kurzen Marsch vom vorigen „Platze" nach dem jetzigen wohl sein assen in dem warmen, saubern Raum, bei warmer Kost und, wenn ihnen das ^kuck hold ist, auch in angenehmer Gesellschaft von „Kollegen," der wundert sich gar nicht über die Schar von Bettlern, die im Winter von Haus zu Haus rennen, w der Hoffnung, endlich einmal einem Polizisten oder Gendarmen in die Arme on laufen. Ein paar kleine Geschichten mögen zum Beweise dafür dienen, daß der Auf¬ enthalt in den Gefängnissen von den Vagabunden sehr begehrt wird und von ihrem «randpunkte aus auch wohl durchaus begehrenswert ist. Grenzboten III 1897 ^2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/337>, abgerufen am 23.07.2024.