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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

halb ihren Wert behalten, auch wenn der letzte wirkliche Bauer gestorben ist.
Daß aber der Bauer ein sehr bemerkenswerter "Repräsentant der Menschheit"
ist, braucht Wohl kaum gesagt zu werden, Gotthelf selber wußte das auch und
meinte, das Leben gleiche der Luft, die oben und unten gleich sei, nur oben
und unter ein wenig anders, gröber oder feiner gemischt, und daß sich die
Menschen in sittlicher Beziehung viel näher stünden, als man ihrem Äußern
nach glauben solle. So ist denn der Baueruspiegel, wie man die Gesamtheit
seiner Werke nennen kann, zugleich ein Weltspiegel, aus dem jeder lernen kann.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Vogel-Strauß-Politik.

In Ur. 30 beweist ein Freund der Grenzboten,
daß die von vielen Seiten beklagte Reaktion, sofern von einer solchen gesprochen
werden dürfe, nichts schlimmes sei. Und darin ist ihm beizustimmen. Der Wissen¬
schaft gilt die Reaktion so wenig wie die Revolution als etwas schlimmes, beide
sind ihr nur historische Kategorien oder richtiger Abschnitte des Weltlaufs. Die
Weltgeschichte besteht aus einer ununterbrochnem Reihe von Revolutionen (Revolution
und Reform oder friedliche Entwicklung sind nicht Gegensatze, sondern bezeichnen
nur das verschiedne Tempo derselben Bewegung), und jede solche Umwälzung voll¬
zieht sich in einem Vorlauf nud einem Rücklauf; welche der beiden Hälften eines
Kreislaufs als Fortschritt und welche als Rückschritt bezeichnet wird, das hängt,
gerade so wie in einem Zirkus, von dem Platze des Beobachters ab; was der frei¬
sinnige Protestant Fortschritt zum wahren Christentum nennt, das nennt der Katholik
Rückfcill ins Heidentum. Ob diese Kreise der Weltgeschichte eine Spirale bilden
und daher einen Fortschritt darstellen, oder ob sie immer derselbe Kreis sind, der
nur hin und her schwankt und uns zu guter letzt auf dem alten Flecke sitzen läßt,
ob in diesem Falle die Bewegung trotzdem einen Zweck erfüllt, wie die Bewegung
ihrer Trägerin, der Erde, um die Sonne, oder ob sie ganz zwecklos verläuft,
darüber lassen wir die Geschichtsphilosophen Streite"; hier genügt es anzuerkennen,
daß das Wort Reaktion nichts schlechtes bezeichnet, sondern nur denselben Abschnitt
der unaufhörliche" historischen Kreisbewegung, der von den Zuschauer" auf den
gegenüberliegenden Plätze" der Arena als Fortschritt gesehen wird.

Also darin ist dem Freunde zuzustimmen. Aber die Deutung, die er der augen¬
blicklichen Reaktion giebt, sieht einigermaßen wunderlich aus. Diese soll darin bestehen,
daß man jetzt endlich aufhört, das kaufmännische Interesse, das von der Gesetzgebung
die letzten zwei Menschenalter hindurch ausschließlich berücksichtigt worden sei, als das
wichtigste zu behandeln, und daß man zu der gesunden und natürlichen Anschauung
zurückkehrt, woucich der Produzent und der Konsument, nicht die Vermittler zwischen
beiden, die wichtigsten Personen im Staate seien, und diese Rückkehr zur Vernunft
soll es sein, was die alten Parteien und die Neichstagsmehrheit in Aufregung ver¬
setzt, den" die lebten noch in der alten Idee, das Staatswohl sei gleichbedeutend
mit der Blüte des Handels. Nun ist die Reichstagsmehrheit aber in der That


Maßgebliches und Unmaßgebliches

halb ihren Wert behalten, auch wenn der letzte wirkliche Bauer gestorben ist.
Daß aber der Bauer ein sehr bemerkenswerter „Repräsentant der Menschheit"
ist, braucht Wohl kaum gesagt zu werden, Gotthelf selber wußte das auch und
meinte, das Leben gleiche der Luft, die oben und unten gleich sei, nur oben
und unter ein wenig anders, gröber oder feiner gemischt, und daß sich die
Menschen in sittlicher Beziehung viel näher stünden, als man ihrem Äußern
nach glauben solle. So ist denn der Baueruspiegel, wie man die Gesamtheit
seiner Werke nennen kann, zugleich ein Weltspiegel, aus dem jeder lernen kann.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Vogel-Strauß-Politik.

In Ur. 30 beweist ein Freund der Grenzboten,
daß die von vielen Seiten beklagte Reaktion, sofern von einer solchen gesprochen
werden dürfe, nichts schlimmes sei. Und darin ist ihm beizustimmen. Der Wissen¬
schaft gilt die Reaktion so wenig wie die Revolution als etwas schlimmes, beide
sind ihr nur historische Kategorien oder richtiger Abschnitte des Weltlaufs. Die
Weltgeschichte besteht aus einer ununterbrochnem Reihe von Revolutionen (Revolution
und Reform oder friedliche Entwicklung sind nicht Gegensatze, sondern bezeichnen
nur das verschiedne Tempo derselben Bewegung), und jede solche Umwälzung voll¬
zieht sich in einem Vorlauf nud einem Rücklauf; welche der beiden Hälften eines
Kreislaufs als Fortschritt und welche als Rückschritt bezeichnet wird, das hängt,
gerade so wie in einem Zirkus, von dem Platze des Beobachters ab; was der frei¬
sinnige Protestant Fortschritt zum wahren Christentum nennt, das nennt der Katholik
Rückfcill ins Heidentum. Ob diese Kreise der Weltgeschichte eine Spirale bilden
und daher einen Fortschritt darstellen, oder ob sie immer derselbe Kreis sind, der
nur hin und her schwankt und uns zu guter letzt auf dem alten Flecke sitzen läßt,
ob in diesem Falle die Bewegung trotzdem einen Zweck erfüllt, wie die Bewegung
ihrer Trägerin, der Erde, um die Sonne, oder ob sie ganz zwecklos verläuft,
darüber lassen wir die Geschichtsphilosophen Streite»; hier genügt es anzuerkennen,
daß das Wort Reaktion nichts schlechtes bezeichnet, sondern nur denselben Abschnitt
der unaufhörliche» historischen Kreisbewegung, der von den Zuschauer» auf den
gegenüberliegenden Plätze» der Arena als Fortschritt gesehen wird.

Also darin ist dem Freunde zuzustimmen. Aber die Deutung, die er der augen¬
blicklichen Reaktion giebt, sieht einigermaßen wunderlich aus. Diese soll darin bestehen,
daß man jetzt endlich aufhört, das kaufmännische Interesse, das von der Gesetzgebung
die letzten zwei Menschenalter hindurch ausschließlich berücksichtigt worden sei, als das
wichtigste zu behandeln, und daß man zu der gesunden und natürlichen Anschauung
zurückkehrt, woucich der Produzent und der Konsument, nicht die Vermittler zwischen
beiden, die wichtigsten Personen im Staate seien, und diese Rückkehr zur Vernunft
soll es sein, was die alten Parteien und die Neichstagsmehrheit in Aufregung ver¬
setzt, den» die lebten noch in der alten Idee, das Staatswohl sei gleichbedeutend
mit der Blüte des Handels. Nun ist die Reichstagsmehrheit aber in der That


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[0286] Maßgebliches und Unmaßgebliches halb ihren Wert behalten, auch wenn der letzte wirkliche Bauer gestorben ist. Daß aber der Bauer ein sehr bemerkenswerter „Repräsentant der Menschheit" ist, braucht Wohl kaum gesagt zu werden, Gotthelf selber wußte das auch und meinte, das Leben gleiche der Luft, die oben und unten gleich sei, nur oben und unter ein wenig anders, gröber oder feiner gemischt, und daß sich die Menschen in sittlicher Beziehung viel näher stünden, als man ihrem Äußern nach glauben solle. So ist denn der Baueruspiegel, wie man die Gesamtheit seiner Werke nennen kann, zugleich ein Weltspiegel, aus dem jeder lernen kann. Maßgebliches und Unmaßgebliches Vogel-Strauß-Politik. In Ur. 30 beweist ein Freund der Grenzboten, daß die von vielen Seiten beklagte Reaktion, sofern von einer solchen gesprochen werden dürfe, nichts schlimmes sei. Und darin ist ihm beizustimmen. Der Wissen¬ schaft gilt die Reaktion so wenig wie die Revolution als etwas schlimmes, beide sind ihr nur historische Kategorien oder richtiger Abschnitte des Weltlaufs. Die Weltgeschichte besteht aus einer ununterbrochnem Reihe von Revolutionen (Revolution und Reform oder friedliche Entwicklung sind nicht Gegensatze, sondern bezeichnen nur das verschiedne Tempo derselben Bewegung), und jede solche Umwälzung voll¬ zieht sich in einem Vorlauf nud einem Rücklauf; welche der beiden Hälften eines Kreislaufs als Fortschritt und welche als Rückschritt bezeichnet wird, das hängt, gerade so wie in einem Zirkus, von dem Platze des Beobachters ab; was der frei¬ sinnige Protestant Fortschritt zum wahren Christentum nennt, das nennt der Katholik Rückfcill ins Heidentum. Ob diese Kreise der Weltgeschichte eine Spirale bilden und daher einen Fortschritt darstellen, oder ob sie immer derselbe Kreis sind, der nur hin und her schwankt und uns zu guter letzt auf dem alten Flecke sitzen läßt, ob in diesem Falle die Bewegung trotzdem einen Zweck erfüllt, wie die Bewegung ihrer Trägerin, der Erde, um die Sonne, oder ob sie ganz zwecklos verläuft, darüber lassen wir die Geschichtsphilosophen Streite»; hier genügt es anzuerkennen, daß das Wort Reaktion nichts schlechtes bezeichnet, sondern nur denselben Abschnitt der unaufhörliche» historischen Kreisbewegung, der von den Zuschauer» auf den gegenüberliegenden Plätze» der Arena als Fortschritt gesehen wird. Also darin ist dem Freunde zuzustimmen. Aber die Deutung, die er der augen¬ blicklichen Reaktion giebt, sieht einigermaßen wunderlich aus. Diese soll darin bestehen, daß man jetzt endlich aufhört, das kaufmännische Interesse, das von der Gesetzgebung die letzten zwei Menschenalter hindurch ausschließlich berücksichtigt worden sei, als das wichtigste zu behandeln, und daß man zu der gesunden und natürlichen Anschauung zurückkehrt, woucich der Produzent und der Konsument, nicht die Vermittler zwischen beiden, die wichtigsten Personen im Staate seien, und diese Rückkehr zur Vernunft soll es sein, was die alten Parteien und die Neichstagsmehrheit in Aufregung ver¬ setzt, den» die lebten noch in der alten Idee, das Staatswohl sei gleichbedeutend mit der Blüte des Handels. Nun ist die Reichstagsmehrheit aber in der That

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/286>, abgerufen am 27.12.2024.