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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Memoiren von Paul Barras

der Sultan jetzt gar nicht mehr denken, er muß sein System bis auss äußerste
durchführen, oder sein Ruin ist besiegelt. Ein Zugeständnis an die Armenier --
und alle die andern christlichen Stämme des Völkergennschs, das "Osmanisches
Reich" heißt, verlangen dasselbe und empören sich. Erreichen sie etwas, er¬
halten sie Zugeständnisse und Freiheiten, die die Muselmänner nicht haben,
dann hat der Sultan auch bei diesen seine Rolle ausgespielt. "Darum kann
und darf der Sultan nicht reformfreundlich sein, darum wird er nach wie vor
auf alle Freiheitsbestrebungen mit wüstester Reaktion antworten. Unter keinen
Umständen darf er sich die Sympathien seiner Glaubensgenossen verscherzen,
deshalb ist die Christenhetze schließlich seine ultima, rMo. Mit den Armeniern
ist er fertig geworden, nun kommen vielleicht die Griechen an die Reihe,
schließlich aber die Abendländer, deren Vertretung im Indiz Kiosk am schwächsten
ist. Es sind schon einmal bedenkliche Ausschreitungen gegen die Italiener in
Smyrna vorgekommen."

Bei dem System des Sultans -- so meint der Verfasser unsrer Schrift --
wird sich das schaurige Vvlkerdrama im Südosten weiter entwickeln, und es
werden sich Ereignisse wiederholen, die die Bartholomäusnacht an Blutigkeit
hinter sich lassen werden. Die jammervolle, auf unbedingte Erhaltung des Friedens
gerichtete Politik Europas aber trägt daran die Hauptschuld.




Die Memoiren von Paul Barras
(Fortsetzung)

le Protokolle über die Sitzungen des Direktoriums und Barras
Mitteilungen über alles persönliche, was daneben hergeht, zeigen
uus die häuslichen Vorbereitungen zu der öffentlichen Geschichte
dieser Jahre sozusagen bis ins kleinste, sodaß sich von dem vielen
neuen nur eine ganz bescheidne Auswahl geben läßt. Wir be¬
merken, wie diese Behörde, die im Anfange nicht einmal ausreichendes Mobiliar
und eine Schreibstube besitzt, sich allmählich einen Platz im Verkehr mit den
Höfen Europas erobert. Zuerst wird sie hochmütig brüskirt, sie handelt darauf
bestimmt, aber immer mit einer gewissen Höflichkeit. Dann helfen die italie¬
nischen Siege nach, und die Stellung ist da. Anfangs bemüht sie sich um
eine gesandtschaftliche Vertretung in Persien, nach wenigen -Jahren lehnt sie
ein Bündnis mit der Türkei als Frankreichs nicht würdig ab. Den Gedanken,
den man gewöhnlich Carnot zuschreibt, die Koalition in Italien anzugreifen,


Die Memoiren von Paul Barras

der Sultan jetzt gar nicht mehr denken, er muß sein System bis auss äußerste
durchführen, oder sein Ruin ist besiegelt. Ein Zugeständnis an die Armenier —
und alle die andern christlichen Stämme des Völkergennschs, das „Osmanisches
Reich" heißt, verlangen dasselbe und empören sich. Erreichen sie etwas, er¬
halten sie Zugeständnisse und Freiheiten, die die Muselmänner nicht haben,
dann hat der Sultan auch bei diesen seine Rolle ausgespielt. „Darum kann
und darf der Sultan nicht reformfreundlich sein, darum wird er nach wie vor
auf alle Freiheitsbestrebungen mit wüstester Reaktion antworten. Unter keinen
Umständen darf er sich die Sympathien seiner Glaubensgenossen verscherzen,
deshalb ist die Christenhetze schließlich seine ultima, rMo. Mit den Armeniern
ist er fertig geworden, nun kommen vielleicht die Griechen an die Reihe,
schließlich aber die Abendländer, deren Vertretung im Indiz Kiosk am schwächsten
ist. Es sind schon einmal bedenkliche Ausschreitungen gegen die Italiener in
Smyrna vorgekommen."

Bei dem System des Sultans — so meint der Verfasser unsrer Schrift —
wird sich das schaurige Vvlkerdrama im Südosten weiter entwickeln, und es
werden sich Ereignisse wiederholen, die die Bartholomäusnacht an Blutigkeit
hinter sich lassen werden. Die jammervolle, auf unbedingte Erhaltung des Friedens
gerichtete Politik Europas aber trägt daran die Hauptschuld.




Die Memoiren von Paul Barras
(Fortsetzung)

le Protokolle über die Sitzungen des Direktoriums und Barras
Mitteilungen über alles persönliche, was daneben hergeht, zeigen
uus die häuslichen Vorbereitungen zu der öffentlichen Geschichte
dieser Jahre sozusagen bis ins kleinste, sodaß sich von dem vielen
neuen nur eine ganz bescheidne Auswahl geben läßt. Wir be¬
merken, wie diese Behörde, die im Anfange nicht einmal ausreichendes Mobiliar
und eine Schreibstube besitzt, sich allmählich einen Platz im Verkehr mit den
Höfen Europas erobert. Zuerst wird sie hochmütig brüskirt, sie handelt darauf
bestimmt, aber immer mit einer gewissen Höflichkeit. Dann helfen die italie¬
nischen Siege nach, und die Stellung ist da. Anfangs bemüht sie sich um
eine gesandtschaftliche Vertretung in Persien, nach wenigen -Jahren lehnt sie
ein Bündnis mit der Türkei als Frankreichs nicht würdig ab. Den Gedanken,
den man gewöhnlich Carnot zuschreibt, die Koalition in Italien anzugreifen,


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[0136] Die Memoiren von Paul Barras der Sultan jetzt gar nicht mehr denken, er muß sein System bis auss äußerste durchführen, oder sein Ruin ist besiegelt. Ein Zugeständnis an die Armenier — und alle die andern christlichen Stämme des Völkergennschs, das „Osmanisches Reich" heißt, verlangen dasselbe und empören sich. Erreichen sie etwas, er¬ halten sie Zugeständnisse und Freiheiten, die die Muselmänner nicht haben, dann hat der Sultan auch bei diesen seine Rolle ausgespielt. „Darum kann und darf der Sultan nicht reformfreundlich sein, darum wird er nach wie vor auf alle Freiheitsbestrebungen mit wüstester Reaktion antworten. Unter keinen Umständen darf er sich die Sympathien seiner Glaubensgenossen verscherzen, deshalb ist die Christenhetze schließlich seine ultima, rMo. Mit den Armeniern ist er fertig geworden, nun kommen vielleicht die Griechen an die Reihe, schließlich aber die Abendländer, deren Vertretung im Indiz Kiosk am schwächsten ist. Es sind schon einmal bedenkliche Ausschreitungen gegen die Italiener in Smyrna vorgekommen." Bei dem System des Sultans — so meint der Verfasser unsrer Schrift — wird sich das schaurige Vvlkerdrama im Südosten weiter entwickeln, und es werden sich Ereignisse wiederholen, die die Bartholomäusnacht an Blutigkeit hinter sich lassen werden. Die jammervolle, auf unbedingte Erhaltung des Friedens gerichtete Politik Europas aber trägt daran die Hauptschuld. Die Memoiren von Paul Barras (Fortsetzung) le Protokolle über die Sitzungen des Direktoriums und Barras Mitteilungen über alles persönliche, was daneben hergeht, zeigen uus die häuslichen Vorbereitungen zu der öffentlichen Geschichte dieser Jahre sozusagen bis ins kleinste, sodaß sich von dem vielen neuen nur eine ganz bescheidne Auswahl geben läßt. Wir be¬ merken, wie diese Behörde, die im Anfange nicht einmal ausreichendes Mobiliar und eine Schreibstube besitzt, sich allmählich einen Platz im Verkehr mit den Höfen Europas erobert. Zuerst wird sie hochmütig brüskirt, sie handelt darauf bestimmt, aber immer mit einer gewissen Höflichkeit. Dann helfen die italie¬ nischen Siege nach, und die Stellung ist da. Anfangs bemüht sie sich um eine gesandtschaftliche Vertretung in Persien, nach wenigen -Jahren lehnt sie ein Bündnis mit der Türkei als Frankreichs nicht würdig ab. Den Gedanken, den man gewöhnlich Carnot zuschreibt, die Koalition in Italien anzugreifen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/136>, abgerufen am 23.07.2024.