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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Einige Fragen an die Selektionisten
Aarl Jentsch Von

oktor Alexander Tille in Glasgow (wenn ich nicht irre, der Ver¬
fasser des vor einigen Jahren anonym erschienenen Buches: Volks¬
wohl, von einem Sozialaristokraten) hat in Ur. 251 der Frank¬
furter Zeitung einen Aufsatz über "Höchstarbeitszeit," "Mindest¬
lohn" und Versicherung gegen Arbeitslosigkeit veröffentlicht, der
zu einem Blick auf die Selektionslehre einlädt. Tille entwickelt folgende Ge¬
dankenreihe. Die übermäßig lange Arbeitszeit in der Textilindustrie um 1820
hat die englische Regierung zur Fabrikgesetzgebung gezwungen. Gleichzeitig
mit deren Durchführung erlebte die englische Industrie "jenen Riesenaufschwung,
der, wie heute allgemein zugegeben ist, neben dem Fortschreiten der Technik
vor allem auf eine Verbesserung des englischen Arbeitermaterials zurückzuführen
ist. Nach der herrschenden nationalökonomischen Anschauung ist aber diese
Verbesserung in folgender Weise zu stände gekommen: infolge der verkürzten
Arbeitszeit konnten sich(?) die Arbeiter besser ausschlafen und sich reinlicher
halten. So wurden ihre Kinder gesünder und kräftiger, wuchsen unter gesundem
Daseinsbedingungen auf und hinterließen selbst wieder kräftigere Nachkommen.
Diese naive Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung
erworlmer Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals be¬
obachtet worden ist, besitzt si)at!^ z. B. auch noch die deutsche Reichskommission
für Arbeiterstatistik, die voraussetzt, daß die bei sechzehnstündiger Arbeitszeit
von Schmutz starrenden Bäckergesellen, die auf einem schmutzigen Lager schlafen,
sich bei zwölfstündiger Arbeitszeit besser waschen und ihr Bett reiner halten
würden. Es ist reine Illusion, daß die Verkürzung der Arbeitszeit in dieser
Richtung wirke. Trotzdem hat sie in England eine Bedeutung und Wirkung


Grenzboten IV 1396 1


Einige Fragen an die Selektionisten
Aarl Jentsch Von

oktor Alexander Tille in Glasgow (wenn ich nicht irre, der Ver¬
fasser des vor einigen Jahren anonym erschienenen Buches: Volks¬
wohl, von einem Sozialaristokraten) hat in Ur. 251 der Frank¬
furter Zeitung einen Aufsatz über „Höchstarbeitszeit," „Mindest¬
lohn" und Versicherung gegen Arbeitslosigkeit veröffentlicht, der
zu einem Blick auf die Selektionslehre einlädt. Tille entwickelt folgende Ge¬
dankenreihe. Die übermäßig lange Arbeitszeit in der Textilindustrie um 1820
hat die englische Regierung zur Fabrikgesetzgebung gezwungen. Gleichzeitig
mit deren Durchführung erlebte die englische Industrie „jenen Riesenaufschwung,
der, wie heute allgemein zugegeben ist, neben dem Fortschreiten der Technik
vor allem auf eine Verbesserung des englischen Arbeitermaterials zurückzuführen
ist. Nach der herrschenden nationalökonomischen Anschauung ist aber diese
Verbesserung in folgender Weise zu stände gekommen: infolge der verkürzten
Arbeitszeit konnten sich(?) die Arbeiter besser ausschlafen und sich reinlicher
halten. So wurden ihre Kinder gesünder und kräftiger, wuchsen unter gesundem
Daseinsbedingungen auf und hinterließen selbst wieder kräftigere Nachkommen.
Diese naive Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung
erworlmer Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals be¬
obachtet worden ist, besitzt si)at!^ z. B. auch noch die deutsche Reichskommission
für Arbeiterstatistik, die voraussetzt, daß die bei sechzehnstündiger Arbeitszeit
von Schmutz starrenden Bäckergesellen, die auf einem schmutzigen Lager schlafen,
sich bei zwölfstündiger Arbeitszeit besser waschen und ihr Bett reiner halten
würden. Es ist reine Illusion, daß die Verkürzung der Arbeitszeit in dieser
Richtung wirke. Trotzdem hat sie in England eine Bedeutung und Wirkung


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[0009] [Abbildung] Einige Fragen an die Selektionisten Aarl Jentsch Von oktor Alexander Tille in Glasgow (wenn ich nicht irre, der Ver¬ fasser des vor einigen Jahren anonym erschienenen Buches: Volks¬ wohl, von einem Sozialaristokraten) hat in Ur. 251 der Frank¬ furter Zeitung einen Aufsatz über „Höchstarbeitszeit," „Mindest¬ lohn" und Versicherung gegen Arbeitslosigkeit veröffentlicht, der zu einem Blick auf die Selektionslehre einlädt. Tille entwickelt folgende Ge¬ dankenreihe. Die übermäßig lange Arbeitszeit in der Textilindustrie um 1820 hat die englische Regierung zur Fabrikgesetzgebung gezwungen. Gleichzeitig mit deren Durchführung erlebte die englische Industrie „jenen Riesenaufschwung, der, wie heute allgemein zugegeben ist, neben dem Fortschreiten der Technik vor allem auf eine Verbesserung des englischen Arbeitermaterials zurückzuführen ist. Nach der herrschenden nationalökonomischen Anschauung ist aber diese Verbesserung in folgender Weise zu stände gekommen: infolge der verkürzten Arbeitszeit konnten sich(?) die Arbeiter besser ausschlafen und sich reinlicher halten. So wurden ihre Kinder gesünder und kräftiger, wuchsen unter gesundem Daseinsbedingungen auf und hinterließen selbst wieder kräftigere Nachkommen. Diese naive Anschauung des Neo-Lamarckismus, die eine erbliche Übertragung erworlmer Eigenschaften voraussetzt, wie sie noch nirgends und niemals be¬ obachtet worden ist, besitzt si)at!^ z. B. auch noch die deutsche Reichskommission für Arbeiterstatistik, die voraussetzt, daß die bei sechzehnstündiger Arbeitszeit von Schmutz starrenden Bäckergesellen, die auf einem schmutzigen Lager schlafen, sich bei zwölfstündiger Arbeitszeit besser waschen und ihr Bett reiner halten würden. Es ist reine Illusion, daß die Verkürzung der Arbeitszeit in dieser Richtung wirke. Trotzdem hat sie in England eine Bedeutung und Wirkung Grenzboten IV 1396 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/9>, abgerufen am 05.01.2025.