Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches dann tels allgemeine Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe einführen. Bei der Zur Judenfrage. "Ein ständiger Leser der Grenzboten" macht den Ver¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches dann tels allgemeine Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe einführen. Bei der Zur Judenfrage. „Ein ständiger Leser der Grenzboten" macht den Ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223930"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1050" prev="#ID_1049"> dann tels allgemeine Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe einführen. Bei der<lb/> gewaltigen Zahl der Analphabeten, bei dem noch dnrch keinen Schulunterricht<lb/> paralysirten Einfluß der Geistlichkeit ans die Massen wäre das abgeänderte Wahl¬<lb/> recht gleichbedeutend mit der Diktatur der Pfaffen und Popen." Damit wissen<lb/> wir aber immer noch nicht so recht, was es für eine Art von Freiheit ist, die der<lb/> liberale Magyar liebt. Vielleicht verhilft uns Schäffle dazu, der vor sieben<lb/> Monaten, gestützt auf die Statistik, in der „Zukunft" gezeigt hat, wie Budapest<lb/> immer mehr magyarisch, jüdisch und knlvinisch wird, Budapest aber bedeute heute<lb/> schou Ungarn, wie Paris Frankreich bedeutet. Man wird nicht fehlgehen, wenn<lb/> man unter der Freiheit, die das „liberale Bürgertum" Ungarns erstrebt, die Frei¬<lb/> heit der Magyaren, die Deutschen und Slawen zu magyarisiren, die Freiheit der<lb/> Juden, unbehindert ihre Art von Geschäften zu betreiben, die Freiheit der Kalvi-<lb/> nisten, die Katholiken ans den höhern Ämter» zu verdränge», und die Freiheit<lb/> aller drei Verbündeten versteht, sich die Einmischung des „Königs" in ihre An¬<lb/> gelegenheiten zu verbitten und zu den Kosten der Neichsverteidigung so wenig wie<lb/> möglich beizusteuern. In welch übler Lage befinden sich doch unsre deutschen<lb/> Brüder da drüben! Nachdem die Dentschnationalen der Schönererschen Richtung<lb/> beinahe ebenso versprengt sind wie die Deutschliberalen, haben sie, wenn sie sich<lb/> nicht durch Spaltung zur Ohnmacht verurteilen wollen, nur noch die Wahl, ob<lb/> sie sich nnter feudal-klerikale Leitung begeben oder mit den magyarisirenden Ungarn<lb/> Verbunden wolle».</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Zur Judenfrage.</head> <p xml:id="ID_1051" next="#ID_1052"> „Ein ständiger Leser der Grenzboten" macht den Ver¬<lb/> fasser der Rezension von Nüblings Buch auf einige Bibelstellen aufmerksam, die<lb/> selbst dem Alten Testament „einen grundantisemitischen Zug verleihe»," u»d hofft,<lb/> daß er „seine Irrtümer ger» korrigiren" werde. Dem Schreiben liegt der Poli¬<lb/> tische Bilderbogen Ur. 17 bei, der den „Auszug der Juden aus Deutschland" dar¬<lb/> stellt. Der auf die Rückseite des Bogens gedruckte Text enthält einige der Straf¬<lb/> androhungen des Alten Testaments, namentlich die, daß die Juden als Sklaven<lb/> unter fremden Völkern leben und nirgends Ruhe finden sollen. Daraus wird ge¬<lb/> folgert, daß die Juden „gegen deu klaren Wort der mosaischen Verheißungen<lb/> handeln," wenn sie sich „in Deutschland für alle Zeiten festnisten wollen." Wahr¬<lb/> scheinlich also ist hauptsächlich ein „Irrtum" des Rezensenten gemeint, daß er<lb/> S. 219 mit Berufung auf 5. Mose 15, 6 äußert, er glaube nicht, daß die christ¬<lb/> lichen Völker die Juden jemals los werden würden. Die Strafandrohungen des<lb/> Alten Testaments sind dem Rezensenten, der die ganze Bibel schon oft von Anfang<lb/> bis zu Eude durchgelesen hat, wohl bekannt. Diese Strafandrohungen sind aber<lb/> für den Fall ausgesprochen worden, daß die Juden von Jehovah abfallen und die<lb/> Götter der Heiden anbeten würden, und sie haben sich bereits erfüllt. Da die<lb/> Juden heute nur noch Jehovah anbeten, so können sie sich nicht mehr davon ge¬<lb/> troffen fühlen; Götzendienst im sittlichen Sinne, z. B. Mammonsanbetnng, treiben<lb/> die Christen so gut wie die Juden. Nun haben diese sich zwar, dem Neuen<lb/> Testament zufolge, durch die Verwerfung des Messias eine zweite Schuld zuge¬<lb/> zogen, und haben darum ein zweitesmal die Zerstreuung nnter die Völker erlitten.<lb/> Aber gerade darin, daß sie seitdem uuter fremden Völkern leben, liegt ja die Er¬<lb/> füllung der Prophetie, die zu nichte gemacht werden würde, wenn sie, wie der<lb/> Bilderbogen will, allesamt nach Ägypten geschafft würden, wo sie dann doch, sie<lb/> möchten wolle» oder nicht, einen jüdischen Nationalstaat aufrichten müßten u»d eine blei¬<lb/> bende Statt haben würden. Wenn den Antisemiten die Judenvertreibung gelingt, so<lb/> hat der Rezensent durchaus nichts dagegen, denn er ist gewohnt, die Wanderungen der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
dann tels allgemeine Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe einführen. Bei der
gewaltigen Zahl der Analphabeten, bei dem noch dnrch keinen Schulunterricht
paralysirten Einfluß der Geistlichkeit ans die Massen wäre das abgeänderte Wahl¬
recht gleichbedeutend mit der Diktatur der Pfaffen und Popen." Damit wissen
wir aber immer noch nicht so recht, was es für eine Art von Freiheit ist, die der
liberale Magyar liebt. Vielleicht verhilft uns Schäffle dazu, der vor sieben
Monaten, gestützt auf die Statistik, in der „Zukunft" gezeigt hat, wie Budapest
immer mehr magyarisch, jüdisch und knlvinisch wird, Budapest aber bedeute heute
schou Ungarn, wie Paris Frankreich bedeutet. Man wird nicht fehlgehen, wenn
man unter der Freiheit, die das „liberale Bürgertum" Ungarns erstrebt, die Frei¬
heit der Magyaren, die Deutschen und Slawen zu magyarisiren, die Freiheit der
Juden, unbehindert ihre Art von Geschäften zu betreiben, die Freiheit der Kalvi-
nisten, die Katholiken ans den höhern Ämter» zu verdränge», und die Freiheit
aller drei Verbündeten versteht, sich die Einmischung des „Königs" in ihre An¬
gelegenheiten zu verbitten und zu den Kosten der Neichsverteidigung so wenig wie
möglich beizusteuern. In welch übler Lage befinden sich doch unsre deutschen
Brüder da drüben! Nachdem die Dentschnationalen der Schönererschen Richtung
beinahe ebenso versprengt sind wie die Deutschliberalen, haben sie, wenn sie sich
nicht durch Spaltung zur Ohnmacht verurteilen wollen, nur noch die Wahl, ob
sie sich nnter feudal-klerikale Leitung begeben oder mit den magyarisirenden Ungarn
Verbunden wolle».
Zur Judenfrage. „Ein ständiger Leser der Grenzboten" macht den Ver¬
fasser der Rezension von Nüblings Buch auf einige Bibelstellen aufmerksam, die
selbst dem Alten Testament „einen grundantisemitischen Zug verleihe»," u»d hofft,
daß er „seine Irrtümer ger» korrigiren" werde. Dem Schreiben liegt der Poli¬
tische Bilderbogen Ur. 17 bei, der den „Auszug der Juden aus Deutschland" dar¬
stellt. Der auf die Rückseite des Bogens gedruckte Text enthält einige der Straf¬
androhungen des Alten Testaments, namentlich die, daß die Juden als Sklaven
unter fremden Völkern leben und nirgends Ruhe finden sollen. Daraus wird ge¬
folgert, daß die Juden „gegen deu klaren Wort der mosaischen Verheißungen
handeln," wenn sie sich „in Deutschland für alle Zeiten festnisten wollen." Wahr¬
scheinlich also ist hauptsächlich ein „Irrtum" des Rezensenten gemeint, daß er
S. 219 mit Berufung auf 5. Mose 15, 6 äußert, er glaube nicht, daß die christ¬
lichen Völker die Juden jemals los werden würden. Die Strafandrohungen des
Alten Testaments sind dem Rezensenten, der die ganze Bibel schon oft von Anfang
bis zu Eude durchgelesen hat, wohl bekannt. Diese Strafandrohungen sind aber
für den Fall ausgesprochen worden, daß die Juden von Jehovah abfallen und die
Götter der Heiden anbeten würden, und sie haben sich bereits erfüllt. Da die
Juden heute nur noch Jehovah anbeten, so können sie sich nicht mehr davon ge¬
troffen fühlen; Götzendienst im sittlichen Sinne, z. B. Mammonsanbetnng, treiben
die Christen so gut wie die Juden. Nun haben diese sich zwar, dem Neuen
Testament zufolge, durch die Verwerfung des Messias eine zweite Schuld zuge¬
zogen, und haben darum ein zweitesmal die Zerstreuung nnter die Völker erlitten.
Aber gerade darin, daß sie seitdem uuter fremden Völkern leben, liegt ja die Er¬
füllung der Prophetie, die zu nichte gemacht werden würde, wenn sie, wie der
Bilderbogen will, allesamt nach Ägypten geschafft würden, wo sie dann doch, sie
möchten wolle» oder nicht, einen jüdischen Nationalstaat aufrichten müßten u»d eine blei¬
bende Statt haben würden. Wenn den Antisemiten die Judenvertreibung gelingt, so
hat der Rezensent durchaus nichts dagegen, denn er ist gewohnt, die Wanderungen der
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