Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland 8 Wenn ich von der russischen "Freiheit" sprach, so muß ich noch hinzu¬ In den Wagen der russischen Eisenbahnen, die alle vorn und hinten Platt¬ Die "Freiheit" ist also zum großen Teil Ungesetzmäßigkeit. Der erste Aber es wird auch weniger verboten als bei uns. Auf den Straßen Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland 8 Wenn ich von der russischen „Freiheit" sprach, so muß ich noch hinzu¬ In den Wagen der russischen Eisenbahnen, die alle vorn und hinten Platt¬ Die „Freiheit" ist also zum großen Teil Ungesetzmäßigkeit. Der erste Aber es wird auch weniger verboten als bei uns. Auf den Straßen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223786"/> <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> 8</head><lb/> <p xml:id="ID_596"> Wenn ich von der russischen „Freiheit" sprach, so muß ich noch hinzu¬<lb/> fügen, daß sie auch noch in andrer Beziehung vorhanden ist, wo wir Fremden<lb/> sie zunächst gar nicht vermuten. Trotz aller Bevormundung durch den Staat,<lb/> trotz der polizeilichen Kontrolle, trotz des Zwanges auch für die Einheimischen,<lb/> sich durch einen Paß auszuweisen, ist von Belästigung durch Polizei nirgends<lb/> etwas zu spüren. Die russische Polizei ist viel weniger neugierig als die<lb/> unsrige. Unter einer Bedingung natürlich: daß auch nicht die geringste Spur<lb/> von politischer Verdächtigten da ist. Der harmlose Fremde wie der harmlose<lb/> Einwohner kann thun und lassen, was er will. Die Formalitäten der An¬<lb/> meldung bei der Polizei usw. sind im Grunde nicht viel schlimmer als bei<lb/> uns. Vorschriften mögen ja viel und vielleicht strenge bestehen; aber von<lb/> keinem Lande gilt so wie von Rußland, daß nichts so heiß gegessen wird, wie<lb/> es gekocht wird. Der verhältnismäßig freie Zustand mag auch mehr auf die<lb/> Gleichgiltigkeit der Polizeiorgane zurückzuführen sein als auf die Milde der<lb/> Gesetze. Thatsächlich drücken die Behörden ganz gern ein Auge zu, auch ohne<lb/> dazu durch irgend welche schwerwiegende Beweise der Dankbarkeit veranlaßt<lb/> worden zu sein. Rußland hat keine Einkommensteuer, und mancher „freie"<lb/> Russe würde es unbegreiflich finden, wenn die Behörden nach seinem Ein¬<lb/> kommen und Vermögen fragen wollten!</p><lb/> <p xml:id="ID_597"> In den Wagen der russischen Eisenbahnen, die alle vorn und hinten Platt¬<lb/> formen haben, steht immer angeschrieben, daß der Aufenthalt auf der Plattform<lb/> während der Fahrt verboten sei. Dennoch ist es auf Lokalzügen bei gutem<lb/> Wetter ganz selbstverständlich, daß ein Teil der Leute auf der Plattform steht.<lb/> Ich selbst habe sogar zeitunglesend auf der Plattform — gesessen, die Füße<lb/> auf dem Trittbrett des Wagens. Als mir mein Begleiter das vorschlug,<lb/> zögerte ich in meiner loyalen Gesinnung. Aber er beruhigte mich und sagte:<lb/> „Niemand wird es uns verwehren. Man sieht ja, daß wir anständige und<lb/> vorsichtige Leute und nicht betrunken sind."</p><lb/> <p xml:id="ID_598"> Die „Freiheit" ist also zum großen Teil Ungesetzmäßigkeit. Der erste<lb/> Eindruck, den ich in Rußland hatte, gab mir gleich ein Bild davon. In dem<lb/> Bahnhofsspeisesaal von Wirballen stehen auf allen Tischen Tafeln mit der<lb/> Aufschrift: „Nicht rauchen!" Und alles — rauchte, voran die Gendarmerie-<lb/> vffiziere. Auch in dem Koupee für Nichtraucher zündet sich der Russe ohne<lb/> Bedenken seine Cigarette an.</p><lb/> <p xml:id="ID_599" next="#ID_600"> Aber es wird auch weniger verboten als bei uns. Auf den Straßen<lb/> fehlen gänzlich die Tafeln mit: „Rechts gehen!" „Schritt fahren!" und all<lb/> den freundlichen Mahnungen und Aufmunterungen der Polizei, die bei uns<lb/> vielfach zum Straßenschmuck gehören. Ich glaube aber nicht, daß deshalb<lb/> mehr Unglücksfälle vorkommen als etwa in Berlin. Und doch fahren die<lb/> Jswoschtschiks, zumal in Petersburg, wo keine Hügel sind wie in Moskau,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0202]
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
8
Wenn ich von der russischen „Freiheit" sprach, so muß ich noch hinzu¬
fügen, daß sie auch noch in andrer Beziehung vorhanden ist, wo wir Fremden
sie zunächst gar nicht vermuten. Trotz aller Bevormundung durch den Staat,
trotz der polizeilichen Kontrolle, trotz des Zwanges auch für die Einheimischen,
sich durch einen Paß auszuweisen, ist von Belästigung durch Polizei nirgends
etwas zu spüren. Die russische Polizei ist viel weniger neugierig als die
unsrige. Unter einer Bedingung natürlich: daß auch nicht die geringste Spur
von politischer Verdächtigten da ist. Der harmlose Fremde wie der harmlose
Einwohner kann thun und lassen, was er will. Die Formalitäten der An¬
meldung bei der Polizei usw. sind im Grunde nicht viel schlimmer als bei
uns. Vorschriften mögen ja viel und vielleicht strenge bestehen; aber von
keinem Lande gilt so wie von Rußland, daß nichts so heiß gegessen wird, wie
es gekocht wird. Der verhältnismäßig freie Zustand mag auch mehr auf die
Gleichgiltigkeit der Polizeiorgane zurückzuführen sein als auf die Milde der
Gesetze. Thatsächlich drücken die Behörden ganz gern ein Auge zu, auch ohne
dazu durch irgend welche schwerwiegende Beweise der Dankbarkeit veranlaßt
worden zu sein. Rußland hat keine Einkommensteuer, und mancher „freie"
Russe würde es unbegreiflich finden, wenn die Behörden nach seinem Ein¬
kommen und Vermögen fragen wollten!
In den Wagen der russischen Eisenbahnen, die alle vorn und hinten Platt¬
formen haben, steht immer angeschrieben, daß der Aufenthalt auf der Plattform
während der Fahrt verboten sei. Dennoch ist es auf Lokalzügen bei gutem
Wetter ganz selbstverständlich, daß ein Teil der Leute auf der Plattform steht.
Ich selbst habe sogar zeitunglesend auf der Plattform — gesessen, die Füße
auf dem Trittbrett des Wagens. Als mir mein Begleiter das vorschlug,
zögerte ich in meiner loyalen Gesinnung. Aber er beruhigte mich und sagte:
„Niemand wird es uns verwehren. Man sieht ja, daß wir anständige und
vorsichtige Leute und nicht betrunken sind."
Die „Freiheit" ist also zum großen Teil Ungesetzmäßigkeit. Der erste
Eindruck, den ich in Rußland hatte, gab mir gleich ein Bild davon. In dem
Bahnhofsspeisesaal von Wirballen stehen auf allen Tischen Tafeln mit der
Aufschrift: „Nicht rauchen!" Und alles — rauchte, voran die Gendarmerie-
vffiziere. Auch in dem Koupee für Nichtraucher zündet sich der Russe ohne
Bedenken seine Cigarette an.
Aber es wird auch weniger verboten als bei uns. Auf den Straßen
fehlen gänzlich die Tafeln mit: „Rechts gehen!" „Schritt fahren!" und all
den freundlichen Mahnungen und Aufmunterungen der Polizei, die bei uns
vielfach zum Straßenschmuck gehören. Ich glaube aber nicht, daß deshalb
mehr Unglücksfälle vorkommen als etwa in Berlin. Und doch fahren die
Jswoschtschiks, zumal in Petersburg, wo keine Hügel sind wie in Moskau,
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