Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)
9

le Ursachen, die es verschuldet haben, daß die deutsche Litteratur
um 1880 unter den europäischen vollständig im Hintertreffen
stand und den Einfluß fremder Völker erdulden mußte, die man
bisher entweder für barbarisch oder für verkommen gehalten oder
als klein und unbedeutend kaum beachtet hatte, sind mannichfacher
Art. Zunächst hatte sich unsre klassische Dichtung, die letzte und auch wohl
die edelste Renaissance, die Europa gesehen hat, bis dahin in ungetrübtem
Ansehen erhalten und die Dichtung der Lebenden in mancherlei Weise bedrückt,
sodaß weite Kreise der Gebildeten von dieser überhaupt nichts wissen wollten.
Die Dichterschule aber, die wesentlich auf dem Boden, der klassischen Dichtung
stand, war, da sie ihren Geist in einer völlig andern Zeit bei dem Mangel
wahrhaft schöpferischer Talente natürlich nicht erhalten konnte, zuletzt in
Akademismus und Konventionalität erstarrt. Wie einst in Frankreich die An¬
fertigung vou Dramen im klassischen Stil geradezu fabrikmäßig betrieben wurde,
sodaß das Wort aufkam: "Nichts ist leichter, als eine Tragödie zuschreiben,"
so war jetzt auch in Deutschland die Nachahmung der Schillerschen Jamben¬
tragödie und selbst der klassierenden Goethischen eine Sache aller jener kleinen
Talente geworden, für die die Sprache dichtet und denkt; es gab eine allgemeine
poetische Bildung, die z. B. deu schon erwähnten badischen Autodidakten und
Kaufmann Friedrich Geßler in den Stand setzte, eine "Kassandra" zu
schreiben, die ein poetisch angelegter Professor der griechischen Litteratur auch
nicht besser fertig gebracht hätte. Was nicht zu den klassischen Epigonen stand,
was eigne Wege einschlug, das blieb im großen Ganzen vereinsamt und fand
keinen rechten Boden im Volke. Schwerlich hatte um 1860 ein europäisches
Volk dramatische Talente wie Hebbel und Ludwig auszuweisen, auch sind nirgends
so früh große, in gutem Sinne realistische Talente aufgetreten wie bei uns;




Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)
9

le Ursachen, die es verschuldet haben, daß die deutsche Litteratur
um 1880 unter den europäischen vollständig im Hintertreffen
stand und den Einfluß fremder Völker erdulden mußte, die man
bisher entweder für barbarisch oder für verkommen gehalten oder
als klein und unbedeutend kaum beachtet hatte, sind mannichfacher
Art. Zunächst hatte sich unsre klassische Dichtung, die letzte und auch wohl
die edelste Renaissance, die Europa gesehen hat, bis dahin in ungetrübtem
Ansehen erhalten und die Dichtung der Lebenden in mancherlei Weise bedrückt,
sodaß weite Kreise der Gebildeten von dieser überhaupt nichts wissen wollten.
Die Dichterschule aber, die wesentlich auf dem Boden, der klassischen Dichtung
stand, war, da sie ihren Geist in einer völlig andern Zeit bei dem Mangel
wahrhaft schöpferischer Talente natürlich nicht erhalten konnte, zuletzt in
Akademismus und Konventionalität erstarrt. Wie einst in Frankreich die An¬
fertigung vou Dramen im klassischen Stil geradezu fabrikmäßig betrieben wurde,
sodaß das Wort aufkam: „Nichts ist leichter, als eine Tragödie zuschreiben,"
so war jetzt auch in Deutschland die Nachahmung der Schillerschen Jamben¬
tragödie und selbst der klassierenden Goethischen eine Sache aller jener kleinen
Talente geworden, für die die Sprache dichtet und denkt; es gab eine allgemeine
poetische Bildung, die z. B. deu schon erwähnten badischen Autodidakten und
Kaufmann Friedrich Geßler in den Stand setzte, eine „Kassandra" zu
schreiben, die ein poetisch angelegter Professor der griechischen Litteratur auch
nicht besser fertig gebracht hätte. Was nicht zu den klassischen Epigonen stand,
was eigne Wege einschlug, das blieb im großen Ganzen vereinsamt und fand
keinen rechten Boden im Volke. Schwerlich hatte um 1860 ein europäisches
Volk dramatische Talente wie Hebbel und Ludwig auszuweisen, auch sind nirgends
so früh große, in gutem Sinne realistische Talente aufgetreten wie bei uns;


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223360"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341863_222941/figures/grenzboten_341863_222941_223360_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Alten und die Jungen<lb/>
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart<lb/><note type="byline"> Adolf Barrels</note> von(Fortsetzung)</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> 9</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1188" next="#ID_1189"> le Ursachen, die es verschuldet haben, daß die deutsche Litteratur<lb/>
um 1880 unter den europäischen vollständig im Hintertreffen<lb/>
stand und den Einfluß fremder Völker erdulden mußte, die man<lb/>
bisher entweder für barbarisch oder für verkommen gehalten oder<lb/>
als klein und unbedeutend kaum beachtet hatte, sind mannichfacher<lb/>
Art. Zunächst hatte sich unsre klassische Dichtung, die letzte und auch wohl<lb/>
die edelste Renaissance, die Europa gesehen hat, bis dahin in ungetrübtem<lb/>
Ansehen erhalten und die Dichtung der Lebenden in mancherlei Weise bedrückt,<lb/>
sodaß weite Kreise der Gebildeten von dieser überhaupt nichts wissen wollten.<lb/>
Die Dichterschule aber, die wesentlich auf dem Boden, der klassischen Dichtung<lb/>
stand, war, da sie ihren Geist in einer völlig andern Zeit bei dem Mangel<lb/>
wahrhaft schöpferischer Talente natürlich nicht erhalten konnte, zuletzt in<lb/>
Akademismus und Konventionalität erstarrt. Wie einst in Frankreich die An¬<lb/>
fertigung vou Dramen im klassischen Stil geradezu fabrikmäßig betrieben wurde,<lb/>
sodaß das Wort aufkam: &#x201E;Nichts ist leichter, als eine Tragödie zuschreiben,"<lb/>
so war jetzt auch in Deutschland die Nachahmung der Schillerschen Jamben¬<lb/>
tragödie und selbst der klassierenden Goethischen eine Sache aller jener kleinen<lb/>
Talente geworden, für die die Sprache dichtet und denkt; es gab eine allgemeine<lb/>
poetische Bildung, die z. B. deu schon erwähnten badischen Autodidakten und<lb/>
Kaufmann Friedrich Geßler in den Stand setzte, eine &#x201E;Kassandra" zu<lb/>
schreiben, die ein poetisch angelegter Professor der griechischen Litteratur auch<lb/>
nicht besser fertig gebracht hätte. Was nicht zu den klassischen Epigonen stand,<lb/>
was eigne Wege einschlug, das blieb im großen Ganzen vereinsamt und fand<lb/>
keinen rechten Boden im Volke. Schwerlich hatte um 1860 ein europäisches<lb/>
Volk dramatische Talente wie Hebbel und Ludwig auszuweisen, auch sind nirgends<lb/>
so früh große, in gutem Sinne realistische Talente aufgetreten wie bei uns;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] [Abbildung] Die Alten und die Jungen Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart Adolf Barrels von(Fortsetzung) 9 le Ursachen, die es verschuldet haben, daß die deutsche Litteratur um 1880 unter den europäischen vollständig im Hintertreffen stand und den Einfluß fremder Völker erdulden mußte, die man bisher entweder für barbarisch oder für verkommen gehalten oder als klein und unbedeutend kaum beachtet hatte, sind mannichfacher Art. Zunächst hatte sich unsre klassische Dichtung, die letzte und auch wohl die edelste Renaissance, die Europa gesehen hat, bis dahin in ungetrübtem Ansehen erhalten und die Dichtung der Lebenden in mancherlei Weise bedrückt, sodaß weite Kreise der Gebildeten von dieser überhaupt nichts wissen wollten. Die Dichterschule aber, die wesentlich auf dem Boden, der klassischen Dichtung stand, war, da sie ihren Geist in einer völlig andern Zeit bei dem Mangel wahrhaft schöpferischer Talente natürlich nicht erhalten konnte, zuletzt in Akademismus und Konventionalität erstarrt. Wie einst in Frankreich die An¬ fertigung vou Dramen im klassischen Stil geradezu fabrikmäßig betrieben wurde, sodaß das Wort aufkam: „Nichts ist leichter, als eine Tragödie zuschreiben," so war jetzt auch in Deutschland die Nachahmung der Schillerschen Jamben¬ tragödie und selbst der klassierenden Goethischen eine Sache aller jener kleinen Talente geworden, für die die Sprache dichtet und denkt; es gab eine allgemeine poetische Bildung, die z. B. deu schon erwähnten badischen Autodidakten und Kaufmann Friedrich Geßler in den Stand setzte, eine „Kassandra" zu schreiben, die ein poetisch angelegter Professor der griechischen Litteratur auch nicht besser fertig gebracht hätte. Was nicht zu den klassischen Epigonen stand, was eigne Wege einschlug, das blieb im großen Ganzen vereinsamt und fand keinen rechten Boden im Volke. Schwerlich hatte um 1860 ein europäisches Volk dramatische Talente wie Hebbel und Ludwig auszuweisen, auch sind nirgends so früh große, in gutem Sinne realistische Talente aufgetreten wie bei uns;

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/418>, abgerufen am 01.09.2024.