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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Musculus

fühlte sich noch eins mit dem Humanismus und Kosmopolitismus der klassischen
Periode, unbeschadet der nationalen Hoffnungen, die die Einigung Deutsch¬
lands bevorstehen sahen. Es war im ganzen, wenn man das gesamte Volks¬
leben ins Auge faßt, keine leidenschaftlich aufgeregte, geistig bewegte Zeit, es
war sozusagen der Abend einer Kultur, aber ein schöner, frischer, kühler Abend,
der einen neuen schönen Tag zu verheißen schien. Der Dichtung pflegen solche
Zeiten günstig zu sein, und so fehlt es denn der deutschen dieser Zeit auch
nicht an Größe und Bedeutung. Erst um die Mitte der sechziger Jahre, mit
der vollen Ausbildung des Kapitalismus, dem Aufkommen des Materialismus
und dem Anschwellen der politischen Erregung gehen ihr diese verloren.

(Fortsetzung folgt)




Musculus

"scum mich meine Geschäfte nach der Großstadt führen, so bringe ich
gern ein halbes Stündchen bei einem Glase Bier und einer Cigarre
im Wartesaal des Bahnhofs zu. Das großstädtische Reisepublikum
ist zwar im allgemeinen nicht gerade interessant, aber mitunter be¬
merkt man doch einige schnurrige Käuze drunter.

So fielen mir neulich gleich beim Eintreten zwei Männer auf,
die am Schanktisch standen, sich eifrig unterhielten und Kognak dazu tranken. Eben
klingelte der Portier und rief mit heiserer Stimme den fälligen Zug aus. Eine
Menge Reisender drängte sich nach dem Ausgange, ich mußte eine Weile stehen
bleiben und konnte die beiden aus nächster Nähe betrachten. Der eine war ein
untersetzter, ziemlich beleibter Mann mit vollem, blassem Gesicht und beweglichen,
dunkeln Augen, die hinter einem Kneifer mit schwarzer Horneiufassung hervorstachen.
Über der Nasenwurzel hatte er zwei senkrechte Falten und darunter eine wage¬
rechte, was zusammen die Figur eines umgekehrten griechischen ergab und nach
meiner Erfahrung das Kennzeichen solcher Männer ist, die noch ganz andre Dinge
auf den Kopf zu stellen geneigt sind als griechische Buchstaben. Der andre war
ziemlich lang und hager, hatte graues Haar, und sein von unzähligen beweglichen
Fältchen durchfurchtes Gesicht hatte einen gutmütig-schalkhaften Ausdruck.

Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen und beobachteten die Reisenden, die in
ununterbrochnem Strom an ihnen vorbeifluteten. Da streifte eine fein gekleidete
Dame mit dem unförmig aufgeblähten Ärmel ihres Jackets den Dicken um der
Schulter. Er zuckte zurück wie einer, der an einen Mehlsack angestoßen ist, richtete
in komischer Entrüstung die Angen nach der Decke und seufzte: O Musculus!
Dann sahen sich beide an und lachten.

Der Raum leerte sich nach und nach, ich ging nach meiner gewohnten Ecke
und machte mirs dort bequem. Dabei summte mir das eben gehörte Wort in den
Ohren. Was meinte er wohl damit? Die Hausmaus, mus musculus? Oder irgend
"nen Muskel? Richtig, jetzt fiel mirs ein: Musculus hieß ja der Hofprediger
Kurfürst Joachims II. von Brandenburg, der sich durch seine erbitterte Feindschaft


Musculus

fühlte sich noch eins mit dem Humanismus und Kosmopolitismus der klassischen
Periode, unbeschadet der nationalen Hoffnungen, die die Einigung Deutsch¬
lands bevorstehen sahen. Es war im ganzen, wenn man das gesamte Volks¬
leben ins Auge faßt, keine leidenschaftlich aufgeregte, geistig bewegte Zeit, es
war sozusagen der Abend einer Kultur, aber ein schöner, frischer, kühler Abend,
der einen neuen schönen Tag zu verheißen schien. Der Dichtung pflegen solche
Zeiten günstig zu sein, und so fehlt es denn der deutschen dieser Zeit auch
nicht an Größe und Bedeutung. Erst um die Mitte der sechziger Jahre, mit
der vollen Ausbildung des Kapitalismus, dem Aufkommen des Materialismus
und dem Anschwellen der politischen Erregung gehen ihr diese verloren.

(Fortsetzung folgt)




Musculus

«scum mich meine Geschäfte nach der Großstadt führen, so bringe ich
gern ein halbes Stündchen bei einem Glase Bier und einer Cigarre
im Wartesaal des Bahnhofs zu. Das großstädtische Reisepublikum
ist zwar im allgemeinen nicht gerade interessant, aber mitunter be¬
merkt man doch einige schnurrige Käuze drunter.

So fielen mir neulich gleich beim Eintreten zwei Männer auf,
die am Schanktisch standen, sich eifrig unterhielten und Kognak dazu tranken. Eben
klingelte der Portier und rief mit heiserer Stimme den fälligen Zug aus. Eine
Menge Reisender drängte sich nach dem Ausgange, ich mußte eine Weile stehen
bleiben und konnte die beiden aus nächster Nähe betrachten. Der eine war ein
untersetzter, ziemlich beleibter Mann mit vollem, blassem Gesicht und beweglichen,
dunkeln Augen, die hinter einem Kneifer mit schwarzer Horneiufassung hervorstachen.
Über der Nasenwurzel hatte er zwei senkrechte Falten und darunter eine wage¬
rechte, was zusammen die Figur eines umgekehrten griechischen ergab und nach
meiner Erfahrung das Kennzeichen solcher Männer ist, die noch ganz andre Dinge
auf den Kopf zu stellen geneigt sind als griechische Buchstaben. Der andre war
ziemlich lang und hager, hatte graues Haar, und sein von unzähligen beweglichen
Fältchen durchfurchtes Gesicht hatte einen gutmütig-schalkhaften Ausdruck.

Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen und beobachteten die Reisenden, die in
ununterbrochnem Strom an ihnen vorbeifluteten. Da streifte eine fein gekleidete
Dame mit dem unförmig aufgeblähten Ärmel ihres Jackets den Dicken um der
Schulter. Er zuckte zurück wie einer, der an einen Mehlsack angestoßen ist, richtete
in komischer Entrüstung die Angen nach der Decke und seufzte: O Musculus!
Dann sahen sich beide an und lachten.

Der Raum leerte sich nach und nach, ich ging nach meiner gewohnten Ecke
und machte mirs dort bequem. Dabei summte mir das eben gehörte Wort in den
Ohren. Was meinte er wohl damit? Die Hausmaus, mus musculus? Oder irgend
"nen Muskel? Richtig, jetzt fiel mirs ein: Musculus hieß ja der Hofprediger
Kurfürst Joachims II. von Brandenburg, der sich durch seine erbitterte Feindschaft


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[0235] Musculus fühlte sich noch eins mit dem Humanismus und Kosmopolitismus der klassischen Periode, unbeschadet der nationalen Hoffnungen, die die Einigung Deutsch¬ lands bevorstehen sahen. Es war im ganzen, wenn man das gesamte Volks¬ leben ins Auge faßt, keine leidenschaftlich aufgeregte, geistig bewegte Zeit, es war sozusagen der Abend einer Kultur, aber ein schöner, frischer, kühler Abend, der einen neuen schönen Tag zu verheißen schien. Der Dichtung pflegen solche Zeiten günstig zu sein, und so fehlt es denn der deutschen dieser Zeit auch nicht an Größe und Bedeutung. Erst um die Mitte der sechziger Jahre, mit der vollen Ausbildung des Kapitalismus, dem Aufkommen des Materialismus und dem Anschwellen der politischen Erregung gehen ihr diese verloren. (Fortsetzung folgt) Musculus «scum mich meine Geschäfte nach der Großstadt führen, so bringe ich gern ein halbes Stündchen bei einem Glase Bier und einer Cigarre im Wartesaal des Bahnhofs zu. Das großstädtische Reisepublikum ist zwar im allgemeinen nicht gerade interessant, aber mitunter be¬ merkt man doch einige schnurrige Käuze drunter. So fielen mir neulich gleich beim Eintreten zwei Männer auf, die am Schanktisch standen, sich eifrig unterhielten und Kognak dazu tranken. Eben klingelte der Portier und rief mit heiserer Stimme den fälligen Zug aus. Eine Menge Reisender drängte sich nach dem Ausgange, ich mußte eine Weile stehen bleiben und konnte die beiden aus nächster Nähe betrachten. Der eine war ein untersetzter, ziemlich beleibter Mann mit vollem, blassem Gesicht und beweglichen, dunkeln Augen, die hinter einem Kneifer mit schwarzer Horneiufassung hervorstachen. Über der Nasenwurzel hatte er zwei senkrechte Falten und darunter eine wage¬ rechte, was zusammen die Figur eines umgekehrten griechischen ergab und nach meiner Erfahrung das Kennzeichen solcher Männer ist, die noch ganz andre Dinge auf den Kopf zu stellen geneigt sind als griechische Buchstaben. Der andre war ziemlich lang und hager, hatte graues Haar, und sein von unzähligen beweglichen Fältchen durchfurchtes Gesicht hatte einen gutmütig-schalkhaften Ausdruck. Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen und beobachteten die Reisenden, die in ununterbrochnem Strom an ihnen vorbeifluteten. Da streifte eine fein gekleidete Dame mit dem unförmig aufgeblähten Ärmel ihres Jackets den Dicken um der Schulter. Er zuckte zurück wie einer, der an einen Mehlsack angestoßen ist, richtete in komischer Entrüstung die Angen nach der Decke und seufzte: O Musculus! Dann sahen sich beide an und lachten. Der Raum leerte sich nach und nach, ich ging nach meiner gewohnten Ecke und machte mirs dort bequem. Dabei summte mir das eben gehörte Wort in den Ohren. Was meinte er wohl damit? Die Hausmaus, mus musculus? Oder irgend "nen Muskel? Richtig, jetzt fiel mirs ein: Musculus hieß ja der Hofprediger Kurfürst Joachims II. von Brandenburg, der sich durch seine erbitterte Feindschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/235>, abgerufen am 21.11.2024.