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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Fraget
<L. Rothe von(in

ein Dichter in alter und in neuerer Zeit hat einen so gewaltigen
und andauernden Einfluß auf die verschiedensten Völker und
Zeiten ausgeübt wie Homer. Bei den Griechen nahm er die
Stelle unsrer Bibel ein. Die Jugend lernte viele Verse von
ihm auswendig und bildete daran ihre religiösen Begriffe; die
dramatischen Dichter wie die bildenden Künstler entlehnten ihm ihre schönsten
und großartigsten Motive; die Geschichtschreiber sahen ihn als die erste Quelle
an; die wissenschaftliche Kritik leitete von ihm ihre Kunstgesetze ab und wandte
ihm namentlich in der Alexandrinischen Zeit eine ganz besondre Thätigkeit zu.
Von den Griechen ging die Bewunderung auf die Römer über. Eine Über¬
setzung der Odyssee in schwerfällige saturnische Verse war das erste Schulbuch
der Römer, von dem wir sichere Kunde haben. Homer kannte jeder gebildete
Römer und wußte eine Anzahl von Versen auswendig, wie schon im zweiten
Jahrhundert vor Christo das Beispiel des Scipio zeigt, dem beim Anblick des
brennenden Karthagos oder bei der Nachricht vom Tode des Tiberius Gracchus
bekannte homerische Verse auf die Lippen kamen. Ja der größte römische
Epiker, Virgil, glaubte nichts Besseres thun zu können, als nicht nur in der
Anlage seines Epos Homer genau zu folgen, sondern auch ganze Szenen,
namentlich Gleichnisse von ihm in sein Gedicht aufzunehmen. Wenn auch
später das überfeinerte Rom und das zur Mystik neigende Mittelalter Virgil
hoher stellte als Homer, ja dieser wie die ganze griechische Litteratur lange
Zeit im Abendlande fast in Vergessenheit geriet, so genoß er doch beim Wieder-



*) Vergl. A. F. R. Knötel, Homeros der Blinde von Chios und seine Werke.
1- Teil. Leipzig,' Fr- Will). Grunow, 1894. 2. Teil. Ebenda, 1395. -- O. Jäger,
Homerische Aphorismen (in der Sammlung ?ro Dono S> 177--233. Berlin, O, See¬
hafen, 1894). -- H. Grimm, Homeros. 1. Teil. Erster bis neunter Gesang. Berlin,
Bessersche Buchhandlung, 1890. 2, Teil. Zehnter bis vierundzwanzigster Gesang. Ebenda,
1895. -- C. Rothe, 1. Die Bedeutung der Wiederholungen für die homerische
^age (Festschrift des französischen Gymnasiums in Berlin, 1890. S. 121-168. Sonder¬
abdruck. Leipzig, A. Font), 2. Die Bedeutung der Widersprüche für die homerische
Trage. Programm. Berlin, 1394, (Leipzig, A. Font.)


Die Homerische Fraget
<L. Rothe von(in

ein Dichter in alter und in neuerer Zeit hat einen so gewaltigen
und andauernden Einfluß auf die verschiedensten Völker und
Zeiten ausgeübt wie Homer. Bei den Griechen nahm er die
Stelle unsrer Bibel ein. Die Jugend lernte viele Verse von
ihm auswendig und bildete daran ihre religiösen Begriffe; die
dramatischen Dichter wie die bildenden Künstler entlehnten ihm ihre schönsten
und großartigsten Motive; die Geschichtschreiber sahen ihn als die erste Quelle
an; die wissenschaftliche Kritik leitete von ihm ihre Kunstgesetze ab und wandte
ihm namentlich in der Alexandrinischen Zeit eine ganz besondre Thätigkeit zu.
Von den Griechen ging die Bewunderung auf die Römer über. Eine Über¬
setzung der Odyssee in schwerfällige saturnische Verse war das erste Schulbuch
der Römer, von dem wir sichere Kunde haben. Homer kannte jeder gebildete
Römer und wußte eine Anzahl von Versen auswendig, wie schon im zweiten
Jahrhundert vor Christo das Beispiel des Scipio zeigt, dem beim Anblick des
brennenden Karthagos oder bei der Nachricht vom Tode des Tiberius Gracchus
bekannte homerische Verse auf die Lippen kamen. Ja der größte römische
Epiker, Virgil, glaubte nichts Besseres thun zu können, als nicht nur in der
Anlage seines Epos Homer genau zu folgen, sondern auch ganze Szenen,
namentlich Gleichnisse von ihm in sein Gedicht aufzunehmen. Wenn auch
später das überfeinerte Rom und das zur Mystik neigende Mittelalter Virgil
hoher stellte als Homer, ja dieser wie die ganze griechische Litteratur lange
Zeit im Abendlande fast in Vergessenheit geriet, so genoß er doch beim Wieder-



*) Vergl. A. F. R. Knötel, Homeros der Blinde von Chios und seine Werke.
1- Teil. Leipzig,' Fr- Will). Grunow, 1894. 2. Teil. Ebenda, 1395. — O. Jäger,
Homerische Aphorismen (in der Sammlung ?ro Dono S> 177—233. Berlin, O, See¬
hafen, 1894). — H. Grimm, Homeros. 1. Teil. Erster bis neunter Gesang. Berlin,
Bessersche Buchhandlung, 1890. 2, Teil. Zehnter bis vierundzwanzigster Gesang. Ebenda,
1895. — C. Rothe, 1. Die Bedeutung der Wiederholungen für die homerische
^age (Festschrift des französischen Gymnasiums in Berlin, 1890. S. 121-168. Sonder¬
abdruck. Leipzig, A. Font), 2. Die Bedeutung der Widersprüche für die homerische
Trage. Programm. Berlin, 1394, (Leipzig, A. Font.)
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[0387] [Abbildung] Die Homerische Fraget <L. Rothe von(in ein Dichter in alter und in neuerer Zeit hat einen so gewaltigen und andauernden Einfluß auf die verschiedensten Völker und Zeiten ausgeübt wie Homer. Bei den Griechen nahm er die Stelle unsrer Bibel ein. Die Jugend lernte viele Verse von ihm auswendig und bildete daran ihre religiösen Begriffe; die dramatischen Dichter wie die bildenden Künstler entlehnten ihm ihre schönsten und großartigsten Motive; die Geschichtschreiber sahen ihn als die erste Quelle an; die wissenschaftliche Kritik leitete von ihm ihre Kunstgesetze ab und wandte ihm namentlich in der Alexandrinischen Zeit eine ganz besondre Thätigkeit zu. Von den Griechen ging die Bewunderung auf die Römer über. Eine Über¬ setzung der Odyssee in schwerfällige saturnische Verse war das erste Schulbuch der Römer, von dem wir sichere Kunde haben. Homer kannte jeder gebildete Römer und wußte eine Anzahl von Versen auswendig, wie schon im zweiten Jahrhundert vor Christo das Beispiel des Scipio zeigt, dem beim Anblick des brennenden Karthagos oder bei der Nachricht vom Tode des Tiberius Gracchus bekannte homerische Verse auf die Lippen kamen. Ja der größte römische Epiker, Virgil, glaubte nichts Besseres thun zu können, als nicht nur in der Anlage seines Epos Homer genau zu folgen, sondern auch ganze Szenen, namentlich Gleichnisse von ihm in sein Gedicht aufzunehmen. Wenn auch später das überfeinerte Rom und das zur Mystik neigende Mittelalter Virgil hoher stellte als Homer, ja dieser wie die ganze griechische Litteratur lange Zeit im Abendlande fast in Vergessenheit geriet, so genoß er doch beim Wieder- *) Vergl. A. F. R. Knötel, Homeros der Blinde von Chios und seine Werke. 1- Teil. Leipzig,' Fr- Will). Grunow, 1894. 2. Teil. Ebenda, 1395. — O. Jäger, Homerische Aphorismen (in der Sammlung ?ro Dono S> 177—233. Berlin, O, See¬ hafen, 1894). — H. Grimm, Homeros. 1. Teil. Erster bis neunter Gesang. Berlin, Bessersche Buchhandlung, 1890. 2, Teil. Zehnter bis vierundzwanzigster Gesang. Ebenda, 1895. — C. Rothe, 1. Die Bedeutung der Wiederholungen für die homerische ^age (Festschrift des französischen Gymnasiums in Berlin, 1890. S. 121-168. Sonder¬ abdruck. Leipzig, A. Font), 2. Die Bedeutung der Widersprüche für die homerische Trage. Programm. Berlin, 1394, (Leipzig, A. Font.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/387>, abgerufen am 21.11.2024.