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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englische historische Romane

wegen Abtretung des Großherzvgtums in Unterhandlungen stehe. Erst als
der König durch eine Proklamation vom 5. Januar 1871 seinen Unterthanen
die Versicherung gegeben hatte, er sei entschlossen, seine Rechte auf das Land
aufrechtzuerhalten, das Volk möge des unverrückbaren Entschlusses des wohl¬
geneigten Herrschers versichert sein, schwand die Furcht, deren Entstehung
Servals nicht begreift, "da doch von deutscher Seite ein Wunsch in dieser
Richtung niemals ausgesprochen worden ist,"

(Schluß folgt)




Englische historische Romane

osegger braucht einmal, als er eine Gegend, die zur Wildnis
geworden ist, nicht wiedererkennt, das Bild: "Wenn man einen
lieben Vetter hat, der stets ordentlich beisammen, glattrcisirt und
gekämmt war, und man sieht ihn ans einmal wieder, rauh und
verwildert, das Haupt voller Struppeu, das Gesicht voller Haare,
da ist es freilich kein Wunder, wenn man fragt: "Ich weiß nicht, irre ich
mich? Ist das der Vetter, oder ist ers nicht?"" Ganz ähnlich ergeht es uns,
wenn wir die jüngsten Leistungen des englischen historischen Romans ins Auge
fassen. Ist das der Vetter, oder ist ers nicht? Zwei Menschenalter hindurch,
vou Scott bis Thackeray, hat der historische Roman Englands einen Vorrang
vor dem andrer Litteraturen behauptet, die grundverschiedne Meisterschaft, die
"Waverley," "Das Herz von Midlothian," "Ivanhoe" und "Das schöne
Mädchen von Perth," und die andre, die "Barry Lindon," "Harry Esmond"
und "Die Virginier" belebte, vertrat zwei mögliche, gleich ergiebige Richtungen
der vielangcfochtnen, schließlich aber doch unentbehrlichen Kunstform; sowohl
der romantische als der realistische Meister hatte der Entwicklung eine breite
Vahu eröffnet, und so gut man sich einen historischen Romandichter denken
könnte, der Scotts Lebens- und.Farbenfrische, die ganze Breite der Scottschen
Welterfahrung, daneben aber doch Trieb und Fähigkeit zu stärkerer seelischer
Vertiefung, tiefern Blick für das Werden der Dinge von innen heraus hätte,
so gut kann man sich auch einen realistischen Lebensdarsteller denken, dem die
Einsicht in das Wesen der Welt die Flügel nicht geknickt, den Schwung der
Seele nicht geraubt hat. Berücksichtigt man, daß mancher Baum die Neigung
hat, mehr in die Breite als in die Höhe zu wachsen, so würde man sich allen-


Englische historische Romane

wegen Abtretung des Großherzvgtums in Unterhandlungen stehe. Erst als
der König durch eine Proklamation vom 5. Januar 1871 seinen Unterthanen
die Versicherung gegeben hatte, er sei entschlossen, seine Rechte auf das Land
aufrechtzuerhalten, das Volk möge des unverrückbaren Entschlusses des wohl¬
geneigten Herrschers versichert sein, schwand die Furcht, deren Entstehung
Servals nicht begreift, „da doch von deutscher Seite ein Wunsch in dieser
Richtung niemals ausgesprochen worden ist,"

(Schluß folgt)




Englische historische Romane

osegger braucht einmal, als er eine Gegend, die zur Wildnis
geworden ist, nicht wiedererkennt, das Bild: „Wenn man einen
lieben Vetter hat, der stets ordentlich beisammen, glattrcisirt und
gekämmt war, und man sieht ihn ans einmal wieder, rauh und
verwildert, das Haupt voller Struppeu, das Gesicht voller Haare,
da ist es freilich kein Wunder, wenn man fragt: »Ich weiß nicht, irre ich
mich? Ist das der Vetter, oder ist ers nicht?«" Ganz ähnlich ergeht es uns,
wenn wir die jüngsten Leistungen des englischen historischen Romans ins Auge
fassen. Ist das der Vetter, oder ist ers nicht? Zwei Menschenalter hindurch,
vou Scott bis Thackeray, hat der historische Roman Englands einen Vorrang
vor dem andrer Litteraturen behauptet, die grundverschiedne Meisterschaft, die
„Waverley," „Das Herz von Midlothian," „Ivanhoe" und „Das schöne
Mädchen von Perth," und die andre, die „Barry Lindon," „Harry Esmond"
und „Die Virginier" belebte, vertrat zwei mögliche, gleich ergiebige Richtungen
der vielangcfochtnen, schließlich aber doch unentbehrlichen Kunstform; sowohl
der romantische als der realistische Meister hatte der Entwicklung eine breite
Vahu eröffnet, und so gut man sich einen historischen Romandichter denken
könnte, der Scotts Lebens- und.Farbenfrische, die ganze Breite der Scottschen
Welterfahrung, daneben aber doch Trieb und Fähigkeit zu stärkerer seelischer
Vertiefung, tiefern Blick für das Werden der Dinge von innen heraus hätte,
so gut kann man sich auch einen realistischen Lebensdarsteller denken, dem die
Einsicht in das Wesen der Welt die Flügel nicht geknickt, den Schwung der
Seele nicht geraubt hat. Berücksichtigt man, daß mancher Baum die Neigung
hat, mehr in die Breite als in die Höhe zu wachsen, so würde man sich allen-


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[0195] Englische historische Romane wegen Abtretung des Großherzvgtums in Unterhandlungen stehe. Erst als der König durch eine Proklamation vom 5. Januar 1871 seinen Unterthanen die Versicherung gegeben hatte, er sei entschlossen, seine Rechte auf das Land aufrechtzuerhalten, das Volk möge des unverrückbaren Entschlusses des wohl¬ geneigten Herrschers versichert sein, schwand die Furcht, deren Entstehung Servals nicht begreift, „da doch von deutscher Seite ein Wunsch in dieser Richtung niemals ausgesprochen worden ist," (Schluß folgt) Englische historische Romane osegger braucht einmal, als er eine Gegend, die zur Wildnis geworden ist, nicht wiedererkennt, das Bild: „Wenn man einen lieben Vetter hat, der stets ordentlich beisammen, glattrcisirt und gekämmt war, und man sieht ihn ans einmal wieder, rauh und verwildert, das Haupt voller Struppeu, das Gesicht voller Haare, da ist es freilich kein Wunder, wenn man fragt: »Ich weiß nicht, irre ich mich? Ist das der Vetter, oder ist ers nicht?«" Ganz ähnlich ergeht es uns, wenn wir die jüngsten Leistungen des englischen historischen Romans ins Auge fassen. Ist das der Vetter, oder ist ers nicht? Zwei Menschenalter hindurch, vou Scott bis Thackeray, hat der historische Roman Englands einen Vorrang vor dem andrer Litteraturen behauptet, die grundverschiedne Meisterschaft, die „Waverley," „Das Herz von Midlothian," „Ivanhoe" und „Das schöne Mädchen von Perth," und die andre, die „Barry Lindon," „Harry Esmond" und „Die Virginier" belebte, vertrat zwei mögliche, gleich ergiebige Richtungen der vielangcfochtnen, schließlich aber doch unentbehrlichen Kunstform; sowohl der romantische als der realistische Meister hatte der Entwicklung eine breite Vahu eröffnet, und so gut man sich einen historischen Romandichter denken könnte, der Scotts Lebens- und.Farbenfrische, die ganze Breite der Scottschen Welterfahrung, daneben aber doch Trieb und Fähigkeit zu stärkerer seelischer Vertiefung, tiefern Blick für das Werden der Dinge von innen heraus hätte, so gut kann man sich auch einen realistischen Lebensdarsteller denken, dem die Einsicht in das Wesen der Welt die Flügel nicht geknickt, den Schwung der Seele nicht geraubt hat. Berücksichtigt man, daß mancher Baum die Neigung hat, mehr in die Breite als in die Höhe zu wachsen, so würde man sich allen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/195>, abgerufen am 01.09.2024.