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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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politische Zeitbetrachtungen

en frohen Jubelfesten sind die sauern Wochen der Tagespolitik
auf dem Fuße gefolgt. Häßliche Skandale drohen die Deutschen
um den Ruhm zu bringen, auch in der Politik auf persönliche
Ehrenhaftigkeit gehalten zu haben. Peinliche Enthüllungen legen
vor aller Welt die Minengänge politischer Drahtzieher bloß,
und doch will die Entrüstung hierüber auch den Gegnern schlecht zu Gesicht
stehen. Sie wissen zu gut, daß sie es im gleichen Falle auch nicht um ein
Haar anders gemacht hätten. Dazu erhebt sich von neuem der Kampf der
Interessen; Börse, Zucker, Spiritus, Tabak, Zunftzwang, Schutz der nationalen
Produktion, Schutz der nationalen Konsumtion! tönt das Feldgeschrei, eine
Zeit lang schien gar das Gespenst der Umsturzvorlage wieder sein Haupt
erheben zu wollen, und das nächste greifbare Ergebnis der großen nationalen
Erinnerungsfeier sind eine Reihe von Verhaftungen, Beschlagnahmen und Ma-
jestätsbeleidignngsprozessen. Wahrlich, es gehört der ganze Glaube an die
Lebenskraft unsers Volkes dazu, um das Vertrauen auf seine Zukunft nicht
sinken zu lassen.

Der trübselige Anblick äußerster politischer Ratlosigkeit und Zerfahrenheit,
den Deutschland gegenwärtig bietet, sollte den Deutschen wenigstens eins zum
Bewußtsein bringen: den hohen Wert verfassungsmäßig gesicherter Einrich¬
tungen. Man stelle sich vor, dieser ungeheure Wirrwarr fiele in eine Zeit,
wo die Nation zugleich berufen wäre, die Grundlagen ihres ganzen staatlichen
Lebens zu bestimmen, oder diese Grundlagen wären durch einen gewaltsamen
Eingriff in Trümmer geschlagen worden: Deutschland wäre heute nicht stark
genug, die tiefen Gegensätze der verschiednen Bevölkerungsgruppen, den Kampf
der wirtschaftlichen Interessen, den Hader der politischen Parteien und über


Grenzboten IV 1895 1


politische Zeitbetrachtungen

en frohen Jubelfesten sind die sauern Wochen der Tagespolitik
auf dem Fuße gefolgt. Häßliche Skandale drohen die Deutschen
um den Ruhm zu bringen, auch in der Politik auf persönliche
Ehrenhaftigkeit gehalten zu haben. Peinliche Enthüllungen legen
vor aller Welt die Minengänge politischer Drahtzieher bloß,
und doch will die Entrüstung hierüber auch den Gegnern schlecht zu Gesicht
stehen. Sie wissen zu gut, daß sie es im gleichen Falle auch nicht um ein
Haar anders gemacht hätten. Dazu erhebt sich von neuem der Kampf der
Interessen; Börse, Zucker, Spiritus, Tabak, Zunftzwang, Schutz der nationalen
Produktion, Schutz der nationalen Konsumtion! tönt das Feldgeschrei, eine
Zeit lang schien gar das Gespenst der Umsturzvorlage wieder sein Haupt
erheben zu wollen, und das nächste greifbare Ergebnis der großen nationalen
Erinnerungsfeier sind eine Reihe von Verhaftungen, Beschlagnahmen und Ma-
jestätsbeleidignngsprozessen. Wahrlich, es gehört der ganze Glaube an die
Lebenskraft unsers Volkes dazu, um das Vertrauen auf seine Zukunft nicht
sinken zu lassen.

Der trübselige Anblick äußerster politischer Ratlosigkeit und Zerfahrenheit,
den Deutschland gegenwärtig bietet, sollte den Deutschen wenigstens eins zum
Bewußtsein bringen: den hohen Wert verfassungsmäßig gesicherter Einrich¬
tungen. Man stelle sich vor, dieser ungeheure Wirrwarr fiele in eine Zeit,
wo die Nation zugleich berufen wäre, die Grundlagen ihres ganzen staatlichen
Lebens zu bestimmen, oder diese Grundlagen wären durch einen gewaltsamen
Eingriff in Trümmer geschlagen worden: Deutschland wäre heute nicht stark
genug, die tiefen Gegensätze der verschiednen Bevölkerungsgruppen, den Kampf
der wirtschaftlichen Interessen, den Hader der politischen Parteien und über


Grenzboten IV 1895 1
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/9>, abgerufen am 27.06.2024.