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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬
genuß zu verderben, wie sie mir sehr gegen meinen Willen gekommen sind. Ich
rate, sich an einer schönen Stelle ins Gras zu legen und mit blinzelnden
Augen durch grüne Bäume nach oben zu sehen. Dann erscheinen dem Träumer
vielleicht ritterliche Helden in strahlender Wehr und miunigliche Jungfrauen auf
milchweißen Rossen, wie man sie in schönen Bilderbüchern bewundern kann.
Oder wenn er ein Mensch von politischer Einsicht ist, erscheint ihm vielleicht
ein Mann, der "voll und ganz" der "Jetztzeit" angehört, und weist ihn hin
auf lauter lustige, buntscheckige Gestalten, die vorübertanzen, sich überkugeln
und possirliche Gesichter schneiden, sodaß nicht zu erkennen ist, was sie eigentlich
vorstellen. Der "Mann der Jetztzeit" aber ruft "unentwegt" mit Stentor¬
stimme: "Immer heran, meine Herrschaften! Hier sehen Sie die allerneuesten
Errungenschaften: eine Errungenschaft, noch eine Errungenschaft, lauter schöne,
bunte Errungenschaften!"




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
7. In Pfarrhäusern*)

üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar
Julius lud mich und meine Siebensachen auf sein Planwagelchen
und fuhr mich nach Rehberg, wobei er unterwegs fortwährend
auf die Pfaffen schimpfte, denn er hatte sich mit seinem Pfarrer
verfeindet. In Finsternis und Schneesturm -- es war No¬
vember -- kamen wir an der Pforte des Pfarrhofs an. Ich zog die Glocke,
und ein wütendes Hundegebell antwortete. Den Stimmen nach mußten es
außer einem großen Köter ein halb Dutzend kleine sein. Dazwischen ein
kräftiger, scharfer Mezzosopran: Still, ihr Bestien! Wer ist da? -- Der neue
Kaplan! -- Johann! Wo steckt denn der Tölpel wieder! Johann! Leg den
Nero an die Kette! Ali, knsch! Wirst du zurück, du Aas! Hierher, Peter!
Marsch ins Haus. Fips!

Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib
ich keinen Augenblick, ich werde bloß die Sachen abladen und mache mich denn
fort. Adieu!



*) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen
s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt.
Grenzboten II 1395 59
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬
genuß zu verderben, wie sie mir sehr gegen meinen Willen gekommen sind. Ich
rate, sich an einer schönen Stelle ins Gras zu legen und mit blinzelnden
Augen durch grüne Bäume nach oben zu sehen. Dann erscheinen dem Träumer
vielleicht ritterliche Helden in strahlender Wehr und miunigliche Jungfrauen auf
milchweißen Rossen, wie man sie in schönen Bilderbüchern bewundern kann.
Oder wenn er ein Mensch von politischer Einsicht ist, erscheint ihm vielleicht
ein Mann, der „voll und ganz" der „Jetztzeit" angehört, und weist ihn hin
auf lauter lustige, buntscheckige Gestalten, die vorübertanzen, sich überkugeln
und possirliche Gesichter schneiden, sodaß nicht zu erkennen ist, was sie eigentlich
vorstellen. Der „Mann der Jetztzeit" aber ruft „unentwegt" mit Stentor¬
stimme: „Immer heran, meine Herrschaften! Hier sehen Sie die allerneuesten
Errungenschaften: eine Errungenschaft, noch eine Errungenschaft, lauter schöne,
bunte Errungenschaften!"




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
7. In Pfarrhäusern*)

üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar
Julius lud mich und meine Siebensachen auf sein Planwagelchen
und fuhr mich nach Rehberg, wobei er unterwegs fortwährend
auf die Pfaffen schimpfte, denn er hatte sich mit seinem Pfarrer
verfeindet. In Finsternis und Schneesturm — es war No¬
vember — kamen wir an der Pforte des Pfarrhofs an. Ich zog die Glocke,
und ein wütendes Hundegebell antwortete. Den Stimmen nach mußten es
außer einem großen Köter ein halb Dutzend kleine sein. Dazwischen ein
kräftiger, scharfer Mezzosopran: Still, ihr Bestien! Wer ist da? — Der neue
Kaplan! — Johann! Wo steckt denn der Tölpel wieder! Johann! Leg den
Nero an die Kette! Ali, knsch! Wirst du zurück, du Aas! Hierher, Peter!
Marsch ins Haus. Fips!

Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib
ich keinen Augenblick, ich werde bloß die Sachen abladen und mache mich denn
fort. Adieu!



*) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen
s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt.
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[0473] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬ genuß zu verderben, wie sie mir sehr gegen meinen Willen gekommen sind. Ich rate, sich an einer schönen Stelle ins Gras zu legen und mit blinzelnden Augen durch grüne Bäume nach oben zu sehen. Dann erscheinen dem Träumer vielleicht ritterliche Helden in strahlender Wehr und miunigliche Jungfrauen auf milchweißen Rossen, wie man sie in schönen Bilderbüchern bewundern kann. Oder wenn er ein Mensch von politischer Einsicht ist, erscheint ihm vielleicht ein Mann, der „voll und ganz" der „Jetztzeit" angehört, und weist ihn hin auf lauter lustige, buntscheckige Gestalten, die vorübertanzen, sich überkugeln und possirliche Gesichter schneiden, sodaß nicht zu erkennen ist, was sie eigentlich vorstellen. Der „Mann der Jetztzeit" aber ruft „unentwegt" mit Stentor¬ stimme: „Immer heran, meine Herrschaften! Hier sehen Sie die allerneuesten Errungenschaften: eine Errungenschaft, noch eine Errungenschaft, lauter schöne, bunte Errungenschaften!" Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 7. In Pfarrhäusern*) üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar Julius lud mich und meine Siebensachen auf sein Planwagelchen und fuhr mich nach Rehberg, wobei er unterwegs fortwährend auf die Pfaffen schimpfte, denn er hatte sich mit seinem Pfarrer verfeindet. In Finsternis und Schneesturm — es war No¬ vember — kamen wir an der Pforte des Pfarrhofs an. Ich zog die Glocke, und ein wütendes Hundegebell antwortete. Den Stimmen nach mußten es außer einem großen Köter ein halb Dutzend kleine sein. Dazwischen ein kräftiger, scharfer Mezzosopran: Still, ihr Bestien! Wer ist da? — Der neue Kaplan! — Johann! Wo steckt denn der Tölpel wieder! Johann! Leg den Nero an die Kette! Ali, knsch! Wirst du zurück, du Aas! Hierher, Peter! Marsch ins Haus. Fips! Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib ich keinen Augenblick, ich werde bloß die Sachen abladen und mache mich denn fort. Adieu! *) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt. Grenzboten II 1395 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/473>, abgerufen am 21.12.2024.