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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

s ist überflüssig, zu untersuchen, wie die deutschen Verfassungen
zu stände gekommen sind, und worauf sich der Anspruch gründet,
daß sie als Staatsgrnndgesetz sowohl vom Landesherrn und von
seineu Ministern, als auch von den Volksvertretungen und von
jedem Einzelnen im Volke unverbrüchlich gehalten werden sollen.
Genug, daß dieser Anspruch heute von keiner einzigen Seite mehr bestritten
wird. Nur daran sei erinnert, daß gerade die Reichsverfassung auf einem be¬
sonders festgefügten Grunde steht. Hervorgegangen aus einem Vertrag der
deutschen Fürsten und freien Städte, ist sie ihrer Zeit vom ersten deutschen
Reichstag beraten, mit den beschlossenen Abänderungen wieder einstimmig von
den verbündeten Regierungen angenommen, schließlich von jeder einzelnen der
deutschen Landesvertretnngen gutgeheißen und in jedem Bundesstaat in den
Formen des Landesgesetzes, endlich auch im Reiche feierlich verkündet worden.
Alle seitdem vorgenommuen Änderungen der Verfassung haben sich auf dem
von ihr selbst vorgezeichneten Wege vollzogen, nämlich in Form von Reichs¬
gesetzen, also unter vollkommen gleichberechtigter Mitwirkung des Bundesrath
und des Reichstags und so, daß der Kaiser nur den von beiden übereinstim¬
mend beschlossenen Gesetzesiuhalt verkündete. Der Wortlaut der Reichsverfassung
ist so nüchtern und klar, ihr Inhalt so glücklich auf das Notwendige beschränkt,
daß auch über die praktische Tragweite ihrer Bestimmungen so gut wie keine
Zweifel entstanden sind. Deutschland ist, bis auf den vergangnen Winter, fast
dreißig Jahre lang in der beneidenswerten Lage gewesen, keinen einzigen Ver¬
fassungsstreit gehabt zu haben. Um die Verfassung selbst hat sich in dieser
Periode ein mächtiger Wall durch das ganze Reich gehender Einrichtungen
und Gesetze herumgelegt, die alle in der Reichsverfassung ihre Wurzel haben.
Eine Generation von Deutschen ist unter ihrem friedlichen Schutze heran-


Grenzboten II 1895 44


Diktatur und Verfassung

s ist überflüssig, zu untersuchen, wie die deutschen Verfassungen
zu stände gekommen sind, und worauf sich der Anspruch gründet,
daß sie als Staatsgrnndgesetz sowohl vom Landesherrn und von
seineu Ministern, als auch von den Volksvertretungen und von
jedem Einzelnen im Volke unverbrüchlich gehalten werden sollen.
Genug, daß dieser Anspruch heute von keiner einzigen Seite mehr bestritten
wird. Nur daran sei erinnert, daß gerade die Reichsverfassung auf einem be¬
sonders festgefügten Grunde steht. Hervorgegangen aus einem Vertrag der
deutschen Fürsten und freien Städte, ist sie ihrer Zeit vom ersten deutschen
Reichstag beraten, mit den beschlossenen Abänderungen wieder einstimmig von
den verbündeten Regierungen angenommen, schließlich von jeder einzelnen der
deutschen Landesvertretnngen gutgeheißen und in jedem Bundesstaat in den
Formen des Landesgesetzes, endlich auch im Reiche feierlich verkündet worden.
Alle seitdem vorgenommuen Änderungen der Verfassung haben sich auf dem
von ihr selbst vorgezeichneten Wege vollzogen, nämlich in Form von Reichs¬
gesetzen, also unter vollkommen gleichberechtigter Mitwirkung des Bundesrath
und des Reichstags und so, daß der Kaiser nur den von beiden übereinstim¬
mend beschlossenen Gesetzesiuhalt verkündete. Der Wortlaut der Reichsverfassung
ist so nüchtern und klar, ihr Inhalt so glücklich auf das Notwendige beschränkt,
daß auch über die praktische Tragweite ihrer Bestimmungen so gut wie keine
Zweifel entstanden sind. Deutschland ist, bis auf den vergangnen Winter, fast
dreißig Jahre lang in der beneidenswerten Lage gewesen, keinen einzigen Ver¬
fassungsstreit gehabt zu haben. Um die Verfassung selbst hat sich in dieser
Periode ein mächtiger Wall durch das ganze Reich gehender Einrichtungen
und Gesetze herumgelegt, die alle in der Reichsverfassung ihre Wurzel haben.
Eine Generation von Deutschen ist unter ihrem friedlichen Schutze heran-


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[0353] [Abbildung] Diktatur und Verfassung s ist überflüssig, zu untersuchen, wie die deutschen Verfassungen zu stände gekommen sind, und worauf sich der Anspruch gründet, daß sie als Staatsgrnndgesetz sowohl vom Landesherrn und von seineu Ministern, als auch von den Volksvertretungen und von jedem Einzelnen im Volke unverbrüchlich gehalten werden sollen. Genug, daß dieser Anspruch heute von keiner einzigen Seite mehr bestritten wird. Nur daran sei erinnert, daß gerade die Reichsverfassung auf einem be¬ sonders festgefügten Grunde steht. Hervorgegangen aus einem Vertrag der deutschen Fürsten und freien Städte, ist sie ihrer Zeit vom ersten deutschen Reichstag beraten, mit den beschlossenen Abänderungen wieder einstimmig von den verbündeten Regierungen angenommen, schließlich von jeder einzelnen der deutschen Landesvertretnngen gutgeheißen und in jedem Bundesstaat in den Formen des Landesgesetzes, endlich auch im Reiche feierlich verkündet worden. Alle seitdem vorgenommuen Änderungen der Verfassung haben sich auf dem von ihr selbst vorgezeichneten Wege vollzogen, nämlich in Form von Reichs¬ gesetzen, also unter vollkommen gleichberechtigter Mitwirkung des Bundesrath und des Reichstags und so, daß der Kaiser nur den von beiden übereinstim¬ mend beschlossenen Gesetzesiuhalt verkündete. Der Wortlaut der Reichsverfassung ist so nüchtern und klar, ihr Inhalt so glücklich auf das Notwendige beschränkt, daß auch über die praktische Tragweite ihrer Bestimmungen so gut wie keine Zweifel entstanden sind. Deutschland ist, bis auf den vergangnen Winter, fast dreißig Jahre lang in der beneidenswerten Lage gewesen, keinen einzigen Ver¬ fassungsstreit gehabt zu haben. Um die Verfassung selbst hat sich in dieser Periode ein mächtiger Wall durch das ganze Reich gehender Einrichtungen und Gesetze herumgelegt, die alle in der Reichsverfassung ihre Wurzel haben. Eine Generation von Deutschen ist unter ihrem friedlichen Schutze heran- Grenzboten II 1895 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/353>, abgerufen am 21.12.2024.