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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage

le erste Lesung der Umsturzvorlage in der Umsturzkommissiou
war von der Öffentlichkeit mit sehr gemischten Empfindungen
begleitet worden, mit allgemeinem Schütteln des Kopfs bei den
Juristen, mit wachsender Enttäuschung bei den Rufern im Streit
gegen den Umsturz, mit etwas später Entrüstung bei den Ver¬
tretern von Wissenschaft und Kunst, als das Paragraphenspiel ihnen selbst
an den Kragen zu gehen drohte, endlich mit immer reinerer Schadenfreude
bei der Sozialdemokratie. Die Kommission hat es deshalb, wie es scheint,
vorgezogen, den Schwerpunkt ihrer Beratungen in die parlamentarischen
Wandelgänge, in vertrauliche Stelldicheins der maßgebenden Parteiführer
-- leider mit Ausschluß der Nationalliberalen -- zu verlegen und die zweite
Lesung nur als kurzes Schaugericht aufzutragen. Man brachte die Suppe
fertig gekocht mit, es kam nur darauf an, sich kein fremdes Gewürz mehr
hineinthun zu lassen. Die staatserhaltenden Parteien, die sich mit dem Zentrum
soeben noch ein blutiges Treffen geliefert hatten, hießen gemeinschaftlich mit
ihm -- nur wieder mit Ausschluß der Nationnlliberalen -- die Vorlage gut,
und so wurde sie in vermehrter und verbesserter Gestalt dem deutschen Volke
als Ostergeschenk überreicht.

Es wäre ungerecht, leugnen zu wollen, daß der Kommisston gewisse Ver¬
besserungen der Vorlage gelungen sind, oder richtiger, daß sie die allergröbsten
Verschlimmerungen des jetzt noch geltenden Strafrechts zu verhindern gewußt
hat. Der gefährlichste Giftzahn, die in den 58 112, 126, 129g. des Ent¬
wurfs wiederkehrende Wendung von der "Absicht, auf den gewaltsamen Um¬
sturz der bestehenden Staatsordnung hinzuwirken," ist der Vorlage gänzlich
ausgebrochen wordeu, das Wort Umsturz kommt in ihr nicht mehr vor, und
streng genommen ist man auch nicht mehr berechtigt, von einer Umsturz-


Grenzboten II 1895 20


Die Umsturzvorlage

le erste Lesung der Umsturzvorlage in der Umsturzkommissiou
war von der Öffentlichkeit mit sehr gemischten Empfindungen
begleitet worden, mit allgemeinem Schütteln des Kopfs bei den
Juristen, mit wachsender Enttäuschung bei den Rufern im Streit
gegen den Umsturz, mit etwas später Entrüstung bei den Ver¬
tretern von Wissenschaft und Kunst, als das Paragraphenspiel ihnen selbst
an den Kragen zu gehen drohte, endlich mit immer reinerer Schadenfreude
bei der Sozialdemokratie. Die Kommission hat es deshalb, wie es scheint,
vorgezogen, den Schwerpunkt ihrer Beratungen in die parlamentarischen
Wandelgänge, in vertrauliche Stelldicheins der maßgebenden Parteiführer
— leider mit Ausschluß der Nationalliberalen — zu verlegen und die zweite
Lesung nur als kurzes Schaugericht aufzutragen. Man brachte die Suppe
fertig gekocht mit, es kam nur darauf an, sich kein fremdes Gewürz mehr
hineinthun zu lassen. Die staatserhaltenden Parteien, die sich mit dem Zentrum
soeben noch ein blutiges Treffen geliefert hatten, hießen gemeinschaftlich mit
ihm — nur wieder mit Ausschluß der Nationnlliberalen — die Vorlage gut,
und so wurde sie in vermehrter und verbesserter Gestalt dem deutschen Volke
als Ostergeschenk überreicht.

Es wäre ungerecht, leugnen zu wollen, daß der Kommisston gewisse Ver¬
besserungen der Vorlage gelungen sind, oder richtiger, daß sie die allergröbsten
Verschlimmerungen des jetzt noch geltenden Strafrechts zu verhindern gewußt
hat. Der gefährlichste Giftzahn, die in den 58 112, 126, 129g. des Ent¬
wurfs wiederkehrende Wendung von der „Absicht, auf den gewaltsamen Um¬
sturz der bestehenden Staatsordnung hinzuwirken," ist der Vorlage gänzlich
ausgebrochen wordeu, das Wort Umsturz kommt in ihr nicht mehr vor, und
streng genommen ist man auch nicht mehr berechtigt, von einer Umsturz-


Grenzboten II 1895 20
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[0161] [Abbildung] Die Umsturzvorlage le erste Lesung der Umsturzvorlage in der Umsturzkommissiou war von der Öffentlichkeit mit sehr gemischten Empfindungen begleitet worden, mit allgemeinem Schütteln des Kopfs bei den Juristen, mit wachsender Enttäuschung bei den Rufern im Streit gegen den Umsturz, mit etwas später Entrüstung bei den Ver¬ tretern von Wissenschaft und Kunst, als das Paragraphenspiel ihnen selbst an den Kragen zu gehen drohte, endlich mit immer reinerer Schadenfreude bei der Sozialdemokratie. Die Kommission hat es deshalb, wie es scheint, vorgezogen, den Schwerpunkt ihrer Beratungen in die parlamentarischen Wandelgänge, in vertrauliche Stelldicheins der maßgebenden Parteiführer — leider mit Ausschluß der Nationalliberalen — zu verlegen und die zweite Lesung nur als kurzes Schaugericht aufzutragen. Man brachte die Suppe fertig gekocht mit, es kam nur darauf an, sich kein fremdes Gewürz mehr hineinthun zu lassen. Die staatserhaltenden Parteien, die sich mit dem Zentrum soeben noch ein blutiges Treffen geliefert hatten, hießen gemeinschaftlich mit ihm — nur wieder mit Ausschluß der Nationnlliberalen — die Vorlage gut, und so wurde sie in vermehrter und verbesserter Gestalt dem deutschen Volke als Ostergeschenk überreicht. Es wäre ungerecht, leugnen zu wollen, daß der Kommisston gewisse Ver¬ besserungen der Vorlage gelungen sind, oder richtiger, daß sie die allergröbsten Verschlimmerungen des jetzt noch geltenden Strafrechts zu verhindern gewußt hat. Der gefährlichste Giftzahn, die in den 58 112, 126, 129g. des Ent¬ wurfs wiederkehrende Wendung von der „Absicht, auf den gewaltsamen Um¬ sturz der bestehenden Staatsordnung hinzuwirken," ist der Vorlage gänzlich ausgebrochen wordeu, das Wort Umsturz kommt in ihr nicht mehr vor, und streng genommen ist man auch nicht mehr berechtigt, von einer Umsturz- Grenzboten II 1895 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/161>, abgerufen am 21.12.2024.