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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Sänger zuraten: "Lesen Sie Äschylos Perser und machen Sie Konjekturen!" Diese
Übelstände werden sich in den nächsten Jahren noch deutlicher herausstellen: Leute,
die durch die neuesten Lehrpläue jeder geistigen Anstrengung entwöhnt sind und
bei denen man zweifeln kann, ob sie vom Deutschen, Lateinischen oder Griechischen
am wenigsten verstehen, sind ein ganz ungeeigneter Boden für die Züchtung des
1ZaoiIIn8 eritivus.

Und damit komme ich znM letzten Punkt. Schon jetzt ist die Forderung un-
abweislich, sich nicht mit den Prädikaten der Abitnricntenzengnisse zu begnügen,
sondern selbst darauf zu sehen, daß der Student der klassischen Philologie über die
wichtigste Grundlage gebietet, d, h. über eine genügende Kenntnis der alten Sprachen.
Übungen im Gebrauche der griechischen und lateinischen Sprache sollten an jeder
Universität abgehalten werden; der Anfänger würde gezwungen werden, sich an
ihnen zu beteiligen, indem etwa die Aufnahme ins Seminar von dem vorherigen
Besuch dieser Übungen abhängig gemacht würde. Wer nicht imstande ist, jeden
nicht allzu schweren antiken Text mit einer gewissen Geläufigkeit zu lesen, der taugt
uicht zum Lehrer der alten Sprachen.




Litteratur
Christian Dvnalitius Litauische Dichtungen. Übersetzt und erläutert von L. Paffarge.
Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1394

Seitdem die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft die aufschlu߬
reiche Bedeutung des Litauischen im Kreise der europäischen Sprachenfamilicn
nachgewiesen hat, ist auch der vortreffliche Nativncildichter in dieser altertümlichen
Natursprache, der evangelische Pfarrer Christian Donnleitis (Dvnalitius) aus dem
vorigen Jahrhundert, immer wieder Gegenstand des gelehrten und poetischen Inter¬
esses gewesen. August Schleicher und der um das Litauische verdiente Pfarrer
Nesselmann haben Ausgaben von ihm veranstaltet, Resselmann auch eine Übersetzung,
die zum Teil der Herausgeber des Donalitius zu Anfang dieses Jahrhunderts,
L. I. Nhesa in Königsberg, versuchte. Beide Übersetzungen sind dem Originaltext
gegenübergestellte Wortübertragungen.

Paffarge will eine künstlerische Übersetzung geben. Inwieweit ihm dies in
Bezug auf das Original gelungen ist, vermögen wir nicht zu beurteilen. Vielleicht
sind die litauischen Hexameter des wackern Pastors, der in einer völlig rohen Sprache
noch zur Zeit der allgemeinen französischen Verpönung des Hexameters (vor Klopstock!)
auf eigne Hand sich dieser antiken Versart in seiner Volksmundart bediente, nach
der metrischen und syntaktischen Seite nicht immer ganz einwandfrei. Diese und jene
Wendung macht uns nicht ganz den derben, urwüchsigen Eindruck, der von dem
Original gerühmt wird, und der auch in dieser Übersetzung im ganzen richtig wieder¬
gegeben scheint. Aber es sind prächtige Genrebilder, mit einer erstaunlichen Freiheit
und sprechender Naturtreue vorgetragen, sowohl die sechs Fabeln (aus dem Rhesaschen
litauischen Äsop) wie das große idyllische Gedicht "Die Jahreszeiten" mit der dazu
gehörigen Skizze "Der Schulze Fritz erzählt von einer litauischen Hochzeit." Der


Litteratur

Sänger zuraten: „Lesen Sie Äschylos Perser und machen Sie Konjekturen!" Diese
Übelstände werden sich in den nächsten Jahren noch deutlicher herausstellen: Leute,
die durch die neuesten Lehrpläue jeder geistigen Anstrengung entwöhnt sind und
bei denen man zweifeln kann, ob sie vom Deutschen, Lateinischen oder Griechischen
am wenigsten verstehen, sind ein ganz ungeeigneter Boden für die Züchtung des
1ZaoiIIn8 eritivus.

Und damit komme ich znM letzten Punkt. Schon jetzt ist die Forderung un-
abweislich, sich nicht mit den Prädikaten der Abitnricntenzengnisse zu begnügen,
sondern selbst darauf zu sehen, daß der Student der klassischen Philologie über die
wichtigste Grundlage gebietet, d, h. über eine genügende Kenntnis der alten Sprachen.
Übungen im Gebrauche der griechischen und lateinischen Sprache sollten an jeder
Universität abgehalten werden; der Anfänger würde gezwungen werden, sich an
ihnen zu beteiligen, indem etwa die Aufnahme ins Seminar von dem vorherigen
Besuch dieser Übungen abhängig gemacht würde. Wer nicht imstande ist, jeden
nicht allzu schweren antiken Text mit einer gewissen Geläufigkeit zu lesen, der taugt
uicht zum Lehrer der alten Sprachen.




Litteratur
Christian Dvnalitius Litauische Dichtungen. Übersetzt und erläutert von L. Paffarge.
Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1394

Seitdem die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft die aufschlu߬
reiche Bedeutung des Litauischen im Kreise der europäischen Sprachenfamilicn
nachgewiesen hat, ist auch der vortreffliche Nativncildichter in dieser altertümlichen
Natursprache, der evangelische Pfarrer Christian Donnleitis (Dvnalitius) aus dem
vorigen Jahrhundert, immer wieder Gegenstand des gelehrten und poetischen Inter¬
esses gewesen. August Schleicher und der um das Litauische verdiente Pfarrer
Nesselmann haben Ausgaben von ihm veranstaltet, Resselmann auch eine Übersetzung,
die zum Teil der Herausgeber des Donalitius zu Anfang dieses Jahrhunderts,
L. I. Nhesa in Königsberg, versuchte. Beide Übersetzungen sind dem Originaltext
gegenübergestellte Wortübertragungen.

Paffarge will eine künstlerische Übersetzung geben. Inwieweit ihm dies in
Bezug auf das Original gelungen ist, vermögen wir nicht zu beurteilen. Vielleicht
sind die litauischen Hexameter des wackern Pastors, der in einer völlig rohen Sprache
noch zur Zeit der allgemeinen französischen Verpönung des Hexameters (vor Klopstock!)
auf eigne Hand sich dieser antiken Versart in seiner Volksmundart bediente, nach
der metrischen und syntaktischen Seite nicht immer ganz einwandfrei. Diese und jene
Wendung macht uns nicht ganz den derben, urwüchsigen Eindruck, der von dem
Original gerühmt wird, und der auch in dieser Übersetzung im ganzen richtig wieder¬
gegeben scheint. Aber es sind prächtige Genrebilder, mit einer erstaunlichen Freiheit
und sprechender Naturtreue vorgetragen, sowohl die sechs Fabeln (aus dem Rhesaschen
litauischen Äsop) wie das große idyllische Gedicht „Die Jahreszeiten" mit der dazu
gehörigen Skizze „Der Schulze Fritz erzählt von einer litauischen Hochzeit." Der


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[0159] Litteratur Sänger zuraten: „Lesen Sie Äschylos Perser und machen Sie Konjekturen!" Diese Übelstände werden sich in den nächsten Jahren noch deutlicher herausstellen: Leute, die durch die neuesten Lehrpläue jeder geistigen Anstrengung entwöhnt sind und bei denen man zweifeln kann, ob sie vom Deutschen, Lateinischen oder Griechischen am wenigsten verstehen, sind ein ganz ungeeigneter Boden für die Züchtung des 1ZaoiIIn8 eritivus. Und damit komme ich znM letzten Punkt. Schon jetzt ist die Forderung un- abweislich, sich nicht mit den Prädikaten der Abitnricntenzengnisse zu begnügen, sondern selbst darauf zu sehen, daß der Student der klassischen Philologie über die wichtigste Grundlage gebietet, d, h. über eine genügende Kenntnis der alten Sprachen. Übungen im Gebrauche der griechischen und lateinischen Sprache sollten an jeder Universität abgehalten werden; der Anfänger würde gezwungen werden, sich an ihnen zu beteiligen, indem etwa die Aufnahme ins Seminar von dem vorherigen Besuch dieser Übungen abhängig gemacht würde. Wer nicht imstande ist, jeden nicht allzu schweren antiken Text mit einer gewissen Geläufigkeit zu lesen, der taugt uicht zum Lehrer der alten Sprachen. Litteratur Christian Dvnalitius Litauische Dichtungen. Übersetzt und erläutert von L. Paffarge. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1394 Seitdem die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft die aufschlu߬ reiche Bedeutung des Litauischen im Kreise der europäischen Sprachenfamilicn nachgewiesen hat, ist auch der vortreffliche Nativncildichter in dieser altertümlichen Natursprache, der evangelische Pfarrer Christian Donnleitis (Dvnalitius) aus dem vorigen Jahrhundert, immer wieder Gegenstand des gelehrten und poetischen Inter¬ esses gewesen. August Schleicher und der um das Litauische verdiente Pfarrer Nesselmann haben Ausgaben von ihm veranstaltet, Resselmann auch eine Übersetzung, die zum Teil der Herausgeber des Donalitius zu Anfang dieses Jahrhunderts, L. I. Nhesa in Königsberg, versuchte. Beide Übersetzungen sind dem Originaltext gegenübergestellte Wortübertragungen. Paffarge will eine künstlerische Übersetzung geben. Inwieweit ihm dies in Bezug auf das Original gelungen ist, vermögen wir nicht zu beurteilen. Vielleicht sind die litauischen Hexameter des wackern Pastors, der in einer völlig rohen Sprache noch zur Zeit der allgemeinen französischen Verpönung des Hexameters (vor Klopstock!) auf eigne Hand sich dieser antiken Versart in seiner Volksmundart bediente, nach der metrischen und syntaktischen Seite nicht immer ganz einwandfrei. Diese und jene Wendung macht uns nicht ganz den derben, urwüchsigen Eindruck, der von dem Original gerühmt wird, und der auch in dieser Übersetzung im ganzen richtig wieder¬ gegeben scheint. Aber es sind prächtige Genrebilder, mit einer erstaunlichen Freiheit und sprechender Naturtreue vorgetragen, sowohl die sechs Fabeln (aus dem Rhesaschen litauischen Äsop) wie das große idyllische Gedicht „Die Jahreszeiten" mit der dazu gehörigen Skizze „Der Schulze Fritz erzählt von einer litauischen Hochzeit." Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/159>, abgerufen am 21.12.2024.