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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie schwieg, denn Sedini hatte sich eine Leinwand zurechtgestellt, zu¬
nächst zu einer Skizze für den Kopf allein. Den Haarknoten hatte sie auf¬
gelöst und die Mahne vvrnübergeworfen wie das Weib ans seinem Ent¬
wurf, der die Haare niederhingen in die Gruft, über der sie lag. Sedini
zeichnete, und dabei vergaß er sich und das Mädchen und den Eindruck, den er
gewohnt war, auf junge Geschöpfe zu machen. Nur die Augen lebten an ihm
und die Hand, und beide tasteten und spähten, diese Form nachzubilden, die
fein und energisch einen ganzen Menschen und einen ganzen Künstler ver¬
langte, um ihr gerecht zu werden. Und er zeichnete gut; keiner in München
behandelte die Kohle so, mit dieser Weichheit, mit diesem Eingehen. Keins
von seinen Pußtaliedern malte so,,luftlcicht, so haarfein die Blumen seiner
Ebne, wie er diese kaum merkliche Öffnung zwischen den Lippen, dieses kleine
Lichthvfchen, das unter der Locke hinging, da wo sie die Stirn berührte, diese
leise Seitwärtsneigung des Kopfes, nicht stärker, als sie ein Enzian macht beim
Sonnenuntergang, wenn die Sonnenstrahlen nach Westen gehen und die
Blumen streifen.

So arbeiteten sie mehr als zwei Stunden, mit kleinen Pansen, in denen
sie schweigend ruhten. Darüber war es Mittag geworden, und dem Sedini
sanken die Hände herunter. Er trat zurück: Da haben Herr Janko ein kleines
Meisterwerk gemacht, sagte er leise. Nach Frcinzi schaute er sich erst wieder
um, als sie ihm die Hand zum Lebewohl hinreichte. Er sagte kein Wort,
aber seine Augen redeten eine leidenschaftliche Sprache des Dankes und der
Bewunderung.

Sie fühlte sich ein wenig schwindlig von der Anstrengung. Ohne auf
den Weg zu achten, war sie an der Akademiestraße vorbeigelaufen und stand
vor der Ludwigskirche. Sie stieg die Stufen hinauf, und drinnen in dem
halbdunkeln Raum, mit dem Blick auf deu schimmernden Hochaltar, kniete sie
hin. Sie hatte für etwas zu danken, was wars doch? Daß das Kind nicht
ertrunken war im Teich? Daß ihr Wille geschehen und dem Sedini durch
sie was geglückt war? Daß ihr selber die Lippen so warm und geweiht waren,
weil sie der Sedini geküßt hatte, ehe sie ging? Franzi, es hing noch an dir!
Sie war zur rechten Zeit gekommen und dankte dem Himmel dafür.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein Bauernbrief.

In Ur. 49 des vorigen Jahrgangs war nach einem
Hamburger Blatte über große Bauernhochzeiten berichtet und daran die Bemerkung
geknüpft worden, daß es, solchem Aufwande nach zu urteilen, doch nicht allgemein
so schlimm um unsern Bauernstand stehen könne, wie die Agrarier behaupten.
Darauf hat ein hannöverscher Oberamtmann in einem Briefe an die Redaktion
geantwortet, dessen Hauptgedanken wir mitteilen wollen, weil sie zu einer nicht
ganz unnützen Wiederholung Anlaß geben.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie schwieg, denn Sedini hatte sich eine Leinwand zurechtgestellt, zu¬
nächst zu einer Skizze für den Kopf allein. Den Haarknoten hatte sie auf¬
gelöst und die Mahne vvrnübergeworfen wie das Weib ans seinem Ent¬
wurf, der die Haare niederhingen in die Gruft, über der sie lag. Sedini
zeichnete, und dabei vergaß er sich und das Mädchen und den Eindruck, den er
gewohnt war, auf junge Geschöpfe zu machen. Nur die Augen lebten an ihm
und die Hand, und beide tasteten und spähten, diese Form nachzubilden, die
fein und energisch einen ganzen Menschen und einen ganzen Künstler ver¬
langte, um ihr gerecht zu werden. Und er zeichnete gut; keiner in München
behandelte die Kohle so, mit dieser Weichheit, mit diesem Eingehen. Keins
von seinen Pußtaliedern malte so,,luftlcicht, so haarfein die Blumen seiner
Ebne, wie er diese kaum merkliche Öffnung zwischen den Lippen, dieses kleine
Lichthvfchen, das unter der Locke hinging, da wo sie die Stirn berührte, diese
leise Seitwärtsneigung des Kopfes, nicht stärker, als sie ein Enzian macht beim
Sonnenuntergang, wenn die Sonnenstrahlen nach Westen gehen und die
Blumen streifen.

So arbeiteten sie mehr als zwei Stunden, mit kleinen Pansen, in denen
sie schweigend ruhten. Darüber war es Mittag geworden, und dem Sedini
sanken die Hände herunter. Er trat zurück: Da haben Herr Janko ein kleines
Meisterwerk gemacht, sagte er leise. Nach Frcinzi schaute er sich erst wieder
um, als sie ihm die Hand zum Lebewohl hinreichte. Er sagte kein Wort,
aber seine Augen redeten eine leidenschaftliche Sprache des Dankes und der
Bewunderung.

Sie fühlte sich ein wenig schwindlig von der Anstrengung. Ohne auf
den Weg zu achten, war sie an der Akademiestraße vorbeigelaufen und stand
vor der Ludwigskirche. Sie stieg die Stufen hinauf, und drinnen in dem
halbdunkeln Raum, mit dem Blick auf deu schimmernden Hochaltar, kniete sie
hin. Sie hatte für etwas zu danken, was wars doch? Daß das Kind nicht
ertrunken war im Teich? Daß ihr Wille geschehen und dem Sedini durch
sie was geglückt war? Daß ihr selber die Lippen so warm und geweiht waren,
weil sie der Sedini geküßt hatte, ehe sie ging? Franzi, es hing noch an dir!
Sie war zur rechten Zeit gekommen und dankte dem Himmel dafür.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein Bauernbrief.

In Ur. 49 des vorigen Jahrgangs war nach einem
Hamburger Blatte über große Bauernhochzeiten berichtet und daran die Bemerkung
geknüpft worden, daß es, solchem Aufwande nach zu urteilen, doch nicht allgemein
so schlimm um unsern Bauernstand stehen könne, wie die Agrarier behaupten.
Darauf hat ein hannöverscher Oberamtmann in einem Briefe an die Redaktion
geantwortet, dessen Hauptgedanken wir mitteilen wollen, weil sie zu einer nicht
ganz unnützen Wiederholung Anlaß geben.


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[0154] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sie schwieg, denn Sedini hatte sich eine Leinwand zurechtgestellt, zu¬ nächst zu einer Skizze für den Kopf allein. Den Haarknoten hatte sie auf¬ gelöst und die Mahne vvrnübergeworfen wie das Weib ans seinem Ent¬ wurf, der die Haare niederhingen in die Gruft, über der sie lag. Sedini zeichnete, und dabei vergaß er sich und das Mädchen und den Eindruck, den er gewohnt war, auf junge Geschöpfe zu machen. Nur die Augen lebten an ihm und die Hand, und beide tasteten und spähten, diese Form nachzubilden, die fein und energisch einen ganzen Menschen und einen ganzen Künstler ver¬ langte, um ihr gerecht zu werden. Und er zeichnete gut; keiner in München behandelte die Kohle so, mit dieser Weichheit, mit diesem Eingehen. Keins von seinen Pußtaliedern malte so,,luftlcicht, so haarfein die Blumen seiner Ebne, wie er diese kaum merkliche Öffnung zwischen den Lippen, dieses kleine Lichthvfchen, das unter der Locke hinging, da wo sie die Stirn berührte, diese leise Seitwärtsneigung des Kopfes, nicht stärker, als sie ein Enzian macht beim Sonnenuntergang, wenn die Sonnenstrahlen nach Westen gehen und die Blumen streifen. So arbeiteten sie mehr als zwei Stunden, mit kleinen Pansen, in denen sie schweigend ruhten. Darüber war es Mittag geworden, und dem Sedini sanken die Hände herunter. Er trat zurück: Da haben Herr Janko ein kleines Meisterwerk gemacht, sagte er leise. Nach Frcinzi schaute er sich erst wieder um, als sie ihm die Hand zum Lebewohl hinreichte. Er sagte kein Wort, aber seine Augen redeten eine leidenschaftliche Sprache des Dankes und der Bewunderung. Sie fühlte sich ein wenig schwindlig von der Anstrengung. Ohne auf den Weg zu achten, war sie an der Akademiestraße vorbeigelaufen und stand vor der Ludwigskirche. Sie stieg die Stufen hinauf, und drinnen in dem halbdunkeln Raum, mit dem Blick auf deu schimmernden Hochaltar, kniete sie hin. Sie hatte für etwas zu danken, was wars doch? Daß das Kind nicht ertrunken war im Teich? Daß ihr Wille geschehen und dem Sedini durch sie was geglückt war? Daß ihr selber die Lippen so warm und geweiht waren, weil sie der Sedini geküßt hatte, ehe sie ging? Franzi, es hing noch an dir! Sie war zur rechten Zeit gekommen und dankte dem Himmel dafür. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein Bauernbrief. In Ur. 49 des vorigen Jahrgangs war nach einem Hamburger Blatte über große Bauernhochzeiten berichtet und daran die Bemerkung geknüpft worden, daß es, solchem Aufwande nach zu urteilen, doch nicht allgemein so schlimm um unsern Bauernstand stehen könne, wie die Agrarier behaupten. Darauf hat ein hannöverscher Oberamtmann in einem Briefe an die Redaktion geantwortet, dessen Hauptgedanken wir mitteilen wollen, weil sie zu einer nicht ganz unnützen Wiederholung Anlaß geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/154>, abgerufen am 21.12.2024.