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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zurück und sah finster vor sich hin, Franz lag halb ohnmächtig vor Wut und Schmerz
auf der Bank, Lucie kühlte ihm das zerschlagne Gesicht und sprach leise auf ihn
ein. Auch die Kunden verhielten sich still. Es lag um diesem Abend über alleu
wie Gewitterschwüle.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die nationalökonomischen Fortbilduugkurse,

die vom Evangelisch-
sozialen Kongreß zu Berlin vom 10. bis zum 20. Oktober veranstaltet wurden,
haben bei der Mehrzahl der Teilnehmer gewiß einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Mag auch der Gewinn nicht ohne weiteres greifbar sein und sich nicht in bare
Münze umsehen lassen, wie dies bei den medizinischen Fortbildungskursen der Fall
ist, so wird doch der Einfluß der Berliner Vorlesungen, die beinahe das vollog'inen
imrxlmum der Universität füllten, sicher tief und nachhaltig sein. Das Positive
Wissen, das der einzelne mit fortgenommen hat, und die Anregung zum Weiter¬
studium mag jn auch hoch angeschlagen werden, viel bedeutender aber für das
Leben unsers ganzen Volks wird die Förderung des sozialen Gemeingeistes sein,
der in den Berliner Wochen eine große Stärkung erfahren hat. Wer dn weiß,
welche wichtige Rolle herrschende Stimmungen im Leben der Völker spielen -- mehr
noch als im Leben des einzelnen --, der wird den Schiverpunkt der Berliner Kurse
in dieser Richtung suchen, zumal dn es sich nicht darum handelte, neue Stimmungen
Zu erzeugen, sondern vorhandue zu kräftigen und in einem Bewußtsein zu sammeln.
Diese Stimmungen bewegen sich in zweifacher Richtung. Erstens wenden sie sich
gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die durch die Herrschaft des Kapitals
eine moderne Sklaverei erzeugt hat, gegen die die antike wie eine Wohlthat er¬
scheint. Zweitens neigen sie fich dem Sozialismus zu, eiuer Gesellschaftsordnung,
die dem schrankenlosen Wettbewerb und dem rücksichtslose" Egoismus der einzelnen
ein Ende machen will. Diese Strömungen mögen in ihrer mehr gefühlsmäßigen
Auffassung dunkel genug sein, aber sie waren da und drängten nach Ausdruck. So
hatten die Dozenten der Berliner Kurse eine" unübertrefflichen Resonanzboden, der
"uf jede feine Anspielung, die sich in deu genannten Richtungen bewegte, reagirte.
Einer der Herren freilich bestrebte sich sichtlich. Wasser in den Wein zu schütten
"ut einen übereifriger Thatendrang mit dem Worte zu ersticken, "auf dieser elenden
Erde sei ja überhaupt nicht viel zu bessern." Aber das Bewußtsein von der Not¬
wendigkeit einer Änderung der bestehenden Ordnung ist viel zu stark und viel zu
allgemein, als daß es ohne weiteres ans der Welt zu schaffen wäre, es ist längst
"icht mehr auf die sozialdemokratischen Kreise beschränkt. Das konnten die Berliner
Kurse lehren.

Und noch etwas dazu. Die sozialistische Anschauung bekommt immer stärkern
Zuzug aus deu Kreisen der Theologen. Das Beispiel des Herrn von Wächter
wirkt offenbar ansteckend, sein Blatt, der Christ, erscheint jetzt schon wöchentlich.
Bei deu jünger" Geistlichen hat er die stärksten Sympathien, so viele Bedenken
auch unter ihnen walten mögen, den Schritt des Glaubensgenossen nachzuthun, im


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zurück und sah finster vor sich hin, Franz lag halb ohnmächtig vor Wut und Schmerz
auf der Bank, Lucie kühlte ihm das zerschlagne Gesicht und sprach leise auf ihn
ein. Auch die Kunden verhielten sich still. Es lag um diesem Abend über alleu
wie Gewitterschwüle.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die nationalökonomischen Fortbilduugkurse,

die vom Evangelisch-
sozialen Kongreß zu Berlin vom 10. bis zum 20. Oktober veranstaltet wurden,
haben bei der Mehrzahl der Teilnehmer gewiß einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Mag auch der Gewinn nicht ohne weiteres greifbar sein und sich nicht in bare
Münze umsehen lassen, wie dies bei den medizinischen Fortbildungskursen der Fall
ist, so wird doch der Einfluß der Berliner Vorlesungen, die beinahe das vollog'inen
imrxlmum der Universität füllten, sicher tief und nachhaltig sein. Das Positive
Wissen, das der einzelne mit fortgenommen hat, und die Anregung zum Weiter¬
studium mag jn auch hoch angeschlagen werden, viel bedeutender aber für das
Leben unsers ganzen Volks wird die Förderung des sozialen Gemeingeistes sein,
der in den Berliner Wochen eine große Stärkung erfahren hat. Wer dn weiß,
welche wichtige Rolle herrschende Stimmungen im Leben der Völker spielen — mehr
noch als im Leben des einzelnen —, der wird den Schiverpunkt der Berliner Kurse
in dieser Richtung suchen, zumal dn es sich nicht darum handelte, neue Stimmungen
Zu erzeugen, sondern vorhandue zu kräftigen und in einem Bewußtsein zu sammeln.
Diese Stimmungen bewegen sich in zweifacher Richtung. Erstens wenden sie sich
gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die durch die Herrschaft des Kapitals
eine moderne Sklaverei erzeugt hat, gegen die die antike wie eine Wohlthat er¬
scheint. Zweitens neigen sie fich dem Sozialismus zu, eiuer Gesellschaftsordnung,
die dem schrankenlosen Wettbewerb und dem rücksichtslose» Egoismus der einzelnen
ein Ende machen will. Diese Strömungen mögen in ihrer mehr gefühlsmäßigen
Auffassung dunkel genug sein, aber sie waren da und drängten nach Ausdruck. So
hatten die Dozenten der Berliner Kurse eine» unübertrefflichen Resonanzboden, der
"uf jede feine Anspielung, die sich in deu genannten Richtungen bewegte, reagirte.
Einer der Herren freilich bestrebte sich sichtlich. Wasser in den Wein zu schütten
"ut einen übereifriger Thatendrang mit dem Worte zu ersticken, „auf dieser elenden
Erde sei ja überhaupt nicht viel zu bessern." Aber das Bewußtsein von der Not¬
wendigkeit einer Änderung der bestehenden Ordnung ist viel zu stark und viel zu
allgemein, als daß es ohne weiteres ans der Welt zu schaffen wäre, es ist längst
"icht mehr auf die sozialdemokratischen Kreise beschränkt. Das konnten die Berliner
Kurse lehren.

Und noch etwas dazu. Die sozialistische Anschauung bekommt immer stärkern
Zuzug aus deu Kreisen der Theologen. Das Beispiel des Herrn von Wächter
wirkt offenbar ansteckend, sein Blatt, der Christ, erscheint jetzt schon wöchentlich.
Bei deu jünger» Geistlichen hat er die stärksten Sympathien, so viele Bedenken
auch unter ihnen walten mögen, den Schritt des Glaubensgenossen nachzuthun, im


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[0499] Maßgebliches und Unmaßgebliches zurück und sah finster vor sich hin, Franz lag halb ohnmächtig vor Wut und Schmerz auf der Bank, Lucie kühlte ihm das zerschlagne Gesicht und sprach leise auf ihn ein. Auch die Kunden verhielten sich still. Es lag um diesem Abend über alleu wie Gewitterschwüle. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Die nationalökonomischen Fortbilduugkurse, die vom Evangelisch- sozialen Kongreß zu Berlin vom 10. bis zum 20. Oktober veranstaltet wurden, haben bei der Mehrzahl der Teilnehmer gewiß einen tiefen Eindruck hinterlassen. Mag auch der Gewinn nicht ohne weiteres greifbar sein und sich nicht in bare Münze umsehen lassen, wie dies bei den medizinischen Fortbildungskursen der Fall ist, so wird doch der Einfluß der Berliner Vorlesungen, die beinahe das vollog'inen imrxlmum der Universität füllten, sicher tief und nachhaltig sein. Das Positive Wissen, das der einzelne mit fortgenommen hat, und die Anregung zum Weiter¬ studium mag jn auch hoch angeschlagen werden, viel bedeutender aber für das Leben unsers ganzen Volks wird die Förderung des sozialen Gemeingeistes sein, der in den Berliner Wochen eine große Stärkung erfahren hat. Wer dn weiß, welche wichtige Rolle herrschende Stimmungen im Leben der Völker spielen — mehr noch als im Leben des einzelnen —, der wird den Schiverpunkt der Berliner Kurse in dieser Richtung suchen, zumal dn es sich nicht darum handelte, neue Stimmungen Zu erzeugen, sondern vorhandue zu kräftigen und in einem Bewußtsein zu sammeln. Diese Stimmungen bewegen sich in zweifacher Richtung. Erstens wenden sie sich gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die durch die Herrschaft des Kapitals eine moderne Sklaverei erzeugt hat, gegen die die antike wie eine Wohlthat er¬ scheint. Zweitens neigen sie fich dem Sozialismus zu, eiuer Gesellschaftsordnung, die dem schrankenlosen Wettbewerb und dem rücksichtslose» Egoismus der einzelnen ein Ende machen will. Diese Strömungen mögen in ihrer mehr gefühlsmäßigen Auffassung dunkel genug sein, aber sie waren da und drängten nach Ausdruck. So hatten die Dozenten der Berliner Kurse eine» unübertrefflichen Resonanzboden, der "uf jede feine Anspielung, die sich in deu genannten Richtungen bewegte, reagirte. Einer der Herren freilich bestrebte sich sichtlich. Wasser in den Wein zu schütten "ut einen übereifriger Thatendrang mit dem Worte zu ersticken, „auf dieser elenden Erde sei ja überhaupt nicht viel zu bessern." Aber das Bewußtsein von der Not¬ wendigkeit einer Änderung der bestehenden Ordnung ist viel zu stark und viel zu allgemein, als daß es ohne weiteres ans der Welt zu schaffen wäre, es ist längst "icht mehr auf die sozialdemokratischen Kreise beschränkt. Das konnten die Berliner Kurse lehren. Und noch etwas dazu. Die sozialistische Anschauung bekommt immer stärkern Zuzug aus deu Kreisen der Theologen. Das Beispiel des Herrn von Wächter wirkt offenbar ansteckend, sein Blatt, der Christ, erscheint jetzt schon wöchentlich. Bei deu jünger» Geistlichen hat er die stärksten Sympathien, so viele Bedenken auch unter ihnen walten mögen, den Schritt des Glaubensgenossen nachzuthun, im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/499>, abgerufen am 22.07.2024.