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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

Was für das Lernen gilt, das; es Freiheit und Lust zur Sache voraus¬
setzt, das gilt übrigens auch für das Lehren. Ein Lehren, das geistige Bil¬
dung zum Ziel hat, gedeiht nur in der Freiheit; wird ihm diese durch be¬
engende Vorschrift und harte Kontrolle genommen, so verliert es Freudigkeit
und Kraft und wird zum notdürftigen Abrichten. Auch das haben Schul-
behörden eine Neigung zu vergessen; in der Absicht, den Unterricht zu heben,
haben sie in diesem Jahrhundert Inhalt und Methode des Unterrichts vielfach
durch so starre Vorschriften eingeengt und deu Lehrer unter so scharfe Auf¬
sicht gestellt, daß für persönliche Auffassung und Lösung der Ausgabe wenig
Spielraum bleibt. Die Folge ist, daß der Unterricht aufhört, eine freie Kunst
zu sein, daß er zur fabrikmäßigen Arbeit herabsinkt; kein Wunder, daß aus
solchen Bildungssabrikcu dann auch fabrikmäßige Ware hervorgeht, uicht ge¬
bildete Menschen. Das hindert nicht, daß dieselbe Behörde denselben Lehrern
dann verhält, es sei ihre Pflicht, auf die Individualität der Schüler Rücksicht
zu nehmen; nicht schablonenhafte Gleichsörmigl'eit, soudern kräftige Persönlichkeit
und tüchtige Gesinnung sei das Ziel der Schulbildung. "Kommt aber der
Tag der Abrechnung, dann werden gleiche Leistungen verlangt, die Ziegelsteine
müssen gebrannt sein. Das Persönliche ist aus dem Bewußtsein verschwunden.
Oder noch schlimmer; es gilt nicht, sofern es Lehrern und Schülern zu gute
kommen könnte, aber es lastet, sofern zufallige und persönliche Neigungen des
Aufsichtsbeamten als Forderungen geltend gemacht werden."")


>6

Endlich ergiebt sich ans dem Wesen der Bildung Maß und Auswahl
der Bildungsmittel. Wir werden sagen: lernen soll jeder das und so viel,
als er sich einerseits innerlich anzueignen, andrerseits in lebendigem Gebrauch
zu verwerten vermag. Das erste hängt ab von der natürlichen Begabung,
das andre auch von der äußern Lebensstellung. Zuerst macht demnach die
Verschiedenheit der Anlagen nach Richtung und Umfang Unterschiede in der
Art und dem Maß des Unterrichtsaugebvts notwendig; wo andres und mehr,
als die natürlichen Anlagen fordern oder ertragen, aufgenötigt wird, da ent¬
steht Mißbildung. Hierüber wird, in der Theorie wenigstens, nirgends ein
Zweifel sein. Wer angehalten wird, äußerlich aufzunehmen, was er innerlich
nicht fassen kann, der wird dadurch auch um die Kräfte gebracht, die ihm die
Natur verliehen hat. Aber ähnlich ergeht es auch dem, dessen Schulbildung
nicht zu seinen Lebensverhältnissen paßt. Und zwar gilt das nicht minder
von dem Zuviel als von dein Zuwenig. Wertvoll ist nur der Besitz, den das
^!eben zu verwerte" Gelegenheit giebt, wobei denn natürlich nicht bloß um



Aus einem lesenswerten Aufsatze von Fr. Reuter über die Aufgabe der Erziehung
Gymnasium, in Fleckchens Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik. Jahrgang 1892,
2- Abteilung, Heft 1 und 2.
Bildung

Was für das Lernen gilt, das; es Freiheit und Lust zur Sache voraus¬
setzt, das gilt übrigens auch für das Lehren. Ein Lehren, das geistige Bil¬
dung zum Ziel hat, gedeiht nur in der Freiheit; wird ihm diese durch be¬
engende Vorschrift und harte Kontrolle genommen, so verliert es Freudigkeit
und Kraft und wird zum notdürftigen Abrichten. Auch das haben Schul-
behörden eine Neigung zu vergessen; in der Absicht, den Unterricht zu heben,
haben sie in diesem Jahrhundert Inhalt und Methode des Unterrichts vielfach
durch so starre Vorschriften eingeengt und deu Lehrer unter so scharfe Auf¬
sicht gestellt, daß für persönliche Auffassung und Lösung der Ausgabe wenig
Spielraum bleibt. Die Folge ist, daß der Unterricht aufhört, eine freie Kunst
zu sein, daß er zur fabrikmäßigen Arbeit herabsinkt; kein Wunder, daß aus
solchen Bildungssabrikcu dann auch fabrikmäßige Ware hervorgeht, uicht ge¬
bildete Menschen. Das hindert nicht, daß dieselbe Behörde denselben Lehrern
dann verhält, es sei ihre Pflicht, auf die Individualität der Schüler Rücksicht
zu nehmen; nicht schablonenhafte Gleichsörmigl'eit, soudern kräftige Persönlichkeit
und tüchtige Gesinnung sei das Ziel der Schulbildung. „Kommt aber der
Tag der Abrechnung, dann werden gleiche Leistungen verlangt, die Ziegelsteine
müssen gebrannt sein. Das Persönliche ist aus dem Bewußtsein verschwunden.
Oder noch schlimmer; es gilt nicht, sofern es Lehrern und Schülern zu gute
kommen könnte, aber es lastet, sofern zufallige und persönliche Neigungen des
Aufsichtsbeamten als Forderungen geltend gemacht werden."")


>6

Endlich ergiebt sich ans dem Wesen der Bildung Maß und Auswahl
der Bildungsmittel. Wir werden sagen: lernen soll jeder das und so viel,
als er sich einerseits innerlich anzueignen, andrerseits in lebendigem Gebrauch
zu verwerten vermag. Das erste hängt ab von der natürlichen Begabung,
das andre auch von der äußern Lebensstellung. Zuerst macht demnach die
Verschiedenheit der Anlagen nach Richtung und Umfang Unterschiede in der
Art und dem Maß des Unterrichtsaugebvts notwendig; wo andres und mehr,
als die natürlichen Anlagen fordern oder ertragen, aufgenötigt wird, da ent¬
steht Mißbildung. Hierüber wird, in der Theorie wenigstens, nirgends ein
Zweifel sein. Wer angehalten wird, äußerlich aufzunehmen, was er innerlich
nicht fassen kann, der wird dadurch auch um die Kräfte gebracht, die ihm die
Natur verliehen hat. Aber ähnlich ergeht es auch dem, dessen Schulbildung
nicht zu seinen Lebensverhältnissen paßt. Und zwar gilt das nicht minder
von dem Zuviel als von dein Zuwenig. Wertvoll ist nur der Besitz, den das
^!eben zu verwerte» Gelegenheit giebt, wobei denn natürlich nicht bloß um



Aus einem lesenswerten Aufsatze von Fr. Reuter über die Aufgabe der Erziehung
Gymnasium, in Fleckchens Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik. Jahrgang 1892,
2- Abteilung, Heft 1 und 2.
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[0471] Bildung Was für das Lernen gilt, das; es Freiheit und Lust zur Sache voraus¬ setzt, das gilt übrigens auch für das Lehren. Ein Lehren, das geistige Bil¬ dung zum Ziel hat, gedeiht nur in der Freiheit; wird ihm diese durch be¬ engende Vorschrift und harte Kontrolle genommen, so verliert es Freudigkeit und Kraft und wird zum notdürftigen Abrichten. Auch das haben Schul- behörden eine Neigung zu vergessen; in der Absicht, den Unterricht zu heben, haben sie in diesem Jahrhundert Inhalt und Methode des Unterrichts vielfach durch so starre Vorschriften eingeengt und deu Lehrer unter so scharfe Auf¬ sicht gestellt, daß für persönliche Auffassung und Lösung der Ausgabe wenig Spielraum bleibt. Die Folge ist, daß der Unterricht aufhört, eine freie Kunst zu sein, daß er zur fabrikmäßigen Arbeit herabsinkt; kein Wunder, daß aus solchen Bildungssabrikcu dann auch fabrikmäßige Ware hervorgeht, uicht ge¬ bildete Menschen. Das hindert nicht, daß dieselbe Behörde denselben Lehrern dann verhält, es sei ihre Pflicht, auf die Individualität der Schüler Rücksicht zu nehmen; nicht schablonenhafte Gleichsörmigl'eit, soudern kräftige Persönlichkeit und tüchtige Gesinnung sei das Ziel der Schulbildung. „Kommt aber der Tag der Abrechnung, dann werden gleiche Leistungen verlangt, die Ziegelsteine müssen gebrannt sein. Das Persönliche ist aus dem Bewußtsein verschwunden. Oder noch schlimmer; es gilt nicht, sofern es Lehrern und Schülern zu gute kommen könnte, aber es lastet, sofern zufallige und persönliche Neigungen des Aufsichtsbeamten als Forderungen geltend gemacht werden."") >6 Endlich ergiebt sich ans dem Wesen der Bildung Maß und Auswahl der Bildungsmittel. Wir werden sagen: lernen soll jeder das und so viel, als er sich einerseits innerlich anzueignen, andrerseits in lebendigem Gebrauch zu verwerten vermag. Das erste hängt ab von der natürlichen Begabung, das andre auch von der äußern Lebensstellung. Zuerst macht demnach die Verschiedenheit der Anlagen nach Richtung und Umfang Unterschiede in der Art und dem Maß des Unterrichtsaugebvts notwendig; wo andres und mehr, als die natürlichen Anlagen fordern oder ertragen, aufgenötigt wird, da ent¬ steht Mißbildung. Hierüber wird, in der Theorie wenigstens, nirgends ein Zweifel sein. Wer angehalten wird, äußerlich aufzunehmen, was er innerlich nicht fassen kann, der wird dadurch auch um die Kräfte gebracht, die ihm die Natur verliehen hat. Aber ähnlich ergeht es auch dem, dessen Schulbildung nicht zu seinen Lebensverhältnissen paßt. Und zwar gilt das nicht minder von dem Zuviel als von dein Zuwenig. Wertvoll ist nur der Besitz, den das ^!eben zu verwerte» Gelegenheit giebt, wobei denn natürlich nicht bloß um Aus einem lesenswerten Aufsatze von Fr. Reuter über die Aufgabe der Erziehung Gymnasium, in Fleckchens Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik. Jahrgang 1892, 2- Abteilung, Heft 1 und 2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/471>, abgerufen am 27.06.2024.