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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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3ur8um corcl^!

s sind jetzt fünfzehn Jahre vergangen feit den Sommer-
tagen des Jahres 1878, wo durch ganz Deutschland, ja durch
Europa ein Sturm des Entsetzens und der Entrüstung fuhr
nach den beiden Attentaten auf das Leben unsers großen und
guten Kaisers Wilhelm. Damals wurde ein Wort des Kaisers,
gesprochen unter dem tiefen, ernsten Eindruck, deu die Ereignisse bei ihm her¬
vorgerufen hatten, ein Wort, schlicht und wahr, wie sein ganzes Wesen,
unznhligemale wiederholt, von den verschiedensten Menschen, in den verschie¬
densten Kreisen, das Wort: "Es muß wieder mehr Religion ins Land!"

Wie ist es nun nach fünfzehn Jahren? Ist unser Land in dieser Be¬
ziehung so viel weiter gekommen, daß dieses Wort jetzt überflüssig geworden
wäre? Es wird wohl niemand so optimistisch sein, auf diese Frage mit einem
unbedingten Ja zu antworten. Aber etwas anders wird es, wenn wir fragen,
in welcher Weise denn eine religiöse Bewegung in unserm Lande vor sich gehen
müßte, von wem sie ausgehen, wo sie ansetzen, in welcher Weise und zu welchem
Zwecke sie wirken sollte. Es ist zu fürchten, daß in Beziehung auf tieferes
Eindringen in den Sinn und Wert dieses viel wiederholten Wortes große Un¬
klarheit herrscht.

Zunächst: von wem soll religiöse Vertiefung und Erneuerung ausgehen?
Von der Kirche? Vom Staate? -- Wir antworten: von jeder einzelnen Seele.
Was hilft uns eine äußerlich durchgeführte Reform, wenn die Herzen nicht
dabei siud? Worin besteht und lebt denn die Religion eines Volkes überhaupt,
wenn nicht in jedem einzelnen Gemüte? Nicht im Volke als solchen, wie z. B.
Vaterlandsliebe, Heimatsgefühl u. dergl., nein, sie ist etwas durchaus Per¬
sönliches. Nur ein persönliches Ergriffensein und Durchdrungensein jedes ein¬
zelnen von der Wichtigkeit, die die Forderung der religiösen Vertiefung für


Grenzboten III 1893 öl


3ur8um corcl^!

s sind jetzt fünfzehn Jahre vergangen feit den Sommer-
tagen des Jahres 1878, wo durch ganz Deutschland, ja durch
Europa ein Sturm des Entsetzens und der Entrüstung fuhr
nach den beiden Attentaten auf das Leben unsers großen und
guten Kaisers Wilhelm. Damals wurde ein Wort des Kaisers,
gesprochen unter dem tiefen, ernsten Eindruck, deu die Ereignisse bei ihm her¬
vorgerufen hatten, ein Wort, schlicht und wahr, wie sein ganzes Wesen,
unznhligemale wiederholt, von den verschiedensten Menschen, in den verschie¬
densten Kreisen, das Wort: „Es muß wieder mehr Religion ins Land!"

Wie ist es nun nach fünfzehn Jahren? Ist unser Land in dieser Be¬
ziehung so viel weiter gekommen, daß dieses Wort jetzt überflüssig geworden
wäre? Es wird wohl niemand so optimistisch sein, auf diese Frage mit einem
unbedingten Ja zu antworten. Aber etwas anders wird es, wenn wir fragen,
in welcher Weise denn eine religiöse Bewegung in unserm Lande vor sich gehen
müßte, von wem sie ausgehen, wo sie ansetzen, in welcher Weise und zu welchem
Zwecke sie wirken sollte. Es ist zu fürchten, daß in Beziehung auf tieferes
Eindringen in den Sinn und Wert dieses viel wiederholten Wortes große Un¬
klarheit herrscht.

Zunächst: von wem soll religiöse Vertiefung und Erneuerung ausgehen?
Von der Kirche? Vom Staate? — Wir antworten: von jeder einzelnen Seele.
Was hilft uns eine äußerlich durchgeführte Reform, wenn die Herzen nicht
dabei siud? Worin besteht und lebt denn die Religion eines Volkes überhaupt,
wenn nicht in jedem einzelnen Gemüte? Nicht im Volke als solchen, wie z. B.
Vaterlandsliebe, Heimatsgefühl u. dergl., nein, sie ist etwas durchaus Per¬
sönliches. Nur ein persönliches Ergriffensein und Durchdrungensein jedes ein¬
zelnen von der Wichtigkeit, die die Forderung der religiösen Vertiefung für


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[0489] [Abbildung] 3ur8um corcl^! s sind jetzt fünfzehn Jahre vergangen feit den Sommer- tagen des Jahres 1878, wo durch ganz Deutschland, ja durch Europa ein Sturm des Entsetzens und der Entrüstung fuhr nach den beiden Attentaten auf das Leben unsers großen und guten Kaisers Wilhelm. Damals wurde ein Wort des Kaisers, gesprochen unter dem tiefen, ernsten Eindruck, deu die Ereignisse bei ihm her¬ vorgerufen hatten, ein Wort, schlicht und wahr, wie sein ganzes Wesen, unznhligemale wiederholt, von den verschiedensten Menschen, in den verschie¬ densten Kreisen, das Wort: „Es muß wieder mehr Religion ins Land!" Wie ist es nun nach fünfzehn Jahren? Ist unser Land in dieser Be¬ ziehung so viel weiter gekommen, daß dieses Wort jetzt überflüssig geworden wäre? Es wird wohl niemand so optimistisch sein, auf diese Frage mit einem unbedingten Ja zu antworten. Aber etwas anders wird es, wenn wir fragen, in welcher Weise denn eine religiöse Bewegung in unserm Lande vor sich gehen müßte, von wem sie ausgehen, wo sie ansetzen, in welcher Weise und zu welchem Zwecke sie wirken sollte. Es ist zu fürchten, daß in Beziehung auf tieferes Eindringen in den Sinn und Wert dieses viel wiederholten Wortes große Un¬ klarheit herrscht. Zunächst: von wem soll religiöse Vertiefung und Erneuerung ausgehen? Von der Kirche? Vom Staate? — Wir antworten: von jeder einzelnen Seele. Was hilft uns eine äußerlich durchgeführte Reform, wenn die Herzen nicht dabei siud? Worin besteht und lebt denn die Religion eines Volkes überhaupt, wenn nicht in jedem einzelnen Gemüte? Nicht im Volke als solchen, wie z. B. Vaterlandsliebe, Heimatsgefühl u. dergl., nein, sie ist etwas durchaus Per¬ sönliches. Nur ein persönliches Ergriffensein und Durchdrungensein jedes ein¬ zelnen von der Wichtigkeit, die die Forderung der religiösen Vertiefung für Grenzboten III 1893 öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/489>, abgerufen am 27.07.2024.