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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die deutschsoziale Bewegung

ii dem hinter uns liegenden Wahlkampse hat wieder einmal der
"Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien" gegen die "Um¬
stürzler" eine große Rolle gespielt. Auch der Führer der Na-
tivnalliberalen, der, wie es scheint, immer unfähiger wird, die
im Volke lebendigen Kräfte zu erkennen und richtig zu beurteilen,
hat in seiner Rede zur Militärvorlage das große Wort ausgesprochen, daß
die Sozialdemokratie nicht das geworden wäre, was sie ist, wenn ihr nicht der
Hader der bürgerlichen Parteien zu Hilfe gekommen wäre. Wir wagen die
Ketzerei auszusprechen, daß die Sozialdemokratin' schon heute sehr viel weiter
wäre, als sie ist, wenn sich nicht innerhalb der uichtsozialdewvkratischeu Parteien
eine Bewegung Geltung verschafft hätte, die von dem allgemeinen Ordnungs¬
brei nichts wissen will, die die Sozialdemokratie bloß als ein Erzeugnis ver¬
werflicher sozialer Zustände auffaßt, und die infolge dessen mit mehr Energie
Front macht gegen die Bestrebungen eines bankerotten und überlebten wirt¬
schaftlichen Individualismus als gegen die Frucht dieses Individualismus,
gegen die Sozialdemokratie. Für den liberalen Philister ist das beispiellose
Wachstum der antisemitischen oder dentschsozialen Partei ein fast unlösbares
Rätsel, ein Beweis für eine traurige Verirrung und Verrohung des deutschen
Volkscharakters, ein Antrieb, die Frage nach der Berechtigung des allgemeinen
Wahlrechts einer Nachprüfung zu unterziehe". Für uns liegt das Geheimnis
der Erfolge dieser Partei wesentlich darin, daß sie allein den Mut hat, es
mitzusprechen, daß die Bekämpfung der Sozialdemokratie nur durch die Be¬
seitigung der Übelstände erfolgen kann, denen sie ihre Entstehung verdankt,
und daß der wirkliche Feind nicht die Sozialdemokratie, sondern der Geist ist,
von dem der gemäßigte wie der radikale, der regierungsfähige wie der rc-
Mrungsnnfähigc Liberalismus in gleicher Weise beherrscht wird.


Grcnzl'oder III 1893 4"


Die deutschsoziale Bewegung

ii dem hinter uns liegenden Wahlkampse hat wieder einmal der
„Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien" gegen die „Um¬
stürzler" eine große Rolle gespielt. Auch der Führer der Na-
tivnalliberalen, der, wie es scheint, immer unfähiger wird, die
im Volke lebendigen Kräfte zu erkennen und richtig zu beurteilen,
hat in seiner Rede zur Militärvorlage das große Wort ausgesprochen, daß
die Sozialdemokratie nicht das geworden wäre, was sie ist, wenn ihr nicht der
Hader der bürgerlichen Parteien zu Hilfe gekommen wäre. Wir wagen die
Ketzerei auszusprechen, daß die Sozialdemokratin' schon heute sehr viel weiter
wäre, als sie ist, wenn sich nicht innerhalb der uichtsozialdewvkratischeu Parteien
eine Bewegung Geltung verschafft hätte, die von dem allgemeinen Ordnungs¬
brei nichts wissen will, die die Sozialdemokratie bloß als ein Erzeugnis ver¬
werflicher sozialer Zustände auffaßt, und die infolge dessen mit mehr Energie
Front macht gegen die Bestrebungen eines bankerotten und überlebten wirt¬
schaftlichen Individualismus als gegen die Frucht dieses Individualismus,
gegen die Sozialdemokratie. Für den liberalen Philister ist das beispiellose
Wachstum der antisemitischen oder dentschsozialen Partei ein fast unlösbares
Rätsel, ein Beweis für eine traurige Verirrung und Verrohung des deutschen
Volkscharakters, ein Antrieb, die Frage nach der Berechtigung des allgemeinen
Wahlrechts einer Nachprüfung zu unterziehe». Für uns liegt das Geheimnis
der Erfolge dieser Partei wesentlich darin, daß sie allein den Mut hat, es
mitzusprechen, daß die Bekämpfung der Sozialdemokratie nur durch die Be¬
seitigung der Übelstände erfolgen kann, denen sie ihre Entstehung verdankt,
und daß der wirkliche Feind nicht die Sozialdemokratie, sondern der Geist ist,
von dem der gemäßigte wie der radikale, der regierungsfähige wie der rc-
Mrungsnnfähigc Liberalismus in gleicher Weise beherrscht wird.


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[0393] [Abbildung] Die deutschsoziale Bewegung ii dem hinter uns liegenden Wahlkampse hat wieder einmal der „Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien" gegen die „Um¬ stürzler" eine große Rolle gespielt. Auch der Führer der Na- tivnalliberalen, der, wie es scheint, immer unfähiger wird, die im Volke lebendigen Kräfte zu erkennen und richtig zu beurteilen, hat in seiner Rede zur Militärvorlage das große Wort ausgesprochen, daß die Sozialdemokratie nicht das geworden wäre, was sie ist, wenn ihr nicht der Hader der bürgerlichen Parteien zu Hilfe gekommen wäre. Wir wagen die Ketzerei auszusprechen, daß die Sozialdemokratin' schon heute sehr viel weiter wäre, als sie ist, wenn sich nicht innerhalb der uichtsozialdewvkratischeu Parteien eine Bewegung Geltung verschafft hätte, die von dem allgemeinen Ordnungs¬ brei nichts wissen will, die die Sozialdemokratie bloß als ein Erzeugnis ver¬ werflicher sozialer Zustände auffaßt, und die infolge dessen mit mehr Energie Front macht gegen die Bestrebungen eines bankerotten und überlebten wirt¬ schaftlichen Individualismus als gegen die Frucht dieses Individualismus, gegen die Sozialdemokratie. Für den liberalen Philister ist das beispiellose Wachstum der antisemitischen oder dentschsozialen Partei ein fast unlösbares Rätsel, ein Beweis für eine traurige Verirrung und Verrohung des deutschen Volkscharakters, ein Antrieb, die Frage nach der Berechtigung des allgemeinen Wahlrechts einer Nachprüfung zu unterziehe». Für uns liegt das Geheimnis der Erfolge dieser Partei wesentlich darin, daß sie allein den Mut hat, es mitzusprechen, daß die Bekämpfung der Sozialdemokratie nur durch die Be¬ seitigung der Übelstände erfolgen kann, denen sie ihre Entstehung verdankt, und daß der wirkliche Feind nicht die Sozialdemokratie, sondern der Geist ist, von dem der gemäßigte wie der radikale, der regierungsfähige wie der rc- Mrungsnnfähigc Liberalismus in gleicher Weise beherrscht wird. Grcnzl'oder III 1893 4»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/393>, abgerufen am 27.07.2024.