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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Lehren der jüngsten Vergangenheit
von O, Bah r

le Militärvvrlage ist bewilligt. Die ernste Gefahr, die aus ihrer
Verwerfung drohte, ist für den Augenblick vorübergegangen. Aber
welche Lehren hat uns der ganze Verlauf dieser Angelegenheit
zurückgelassen! Eine Maßregel, bei der die Existenz unsers Vater¬
landes aus dem Spiele steht, über deren Notwendigkeit alle ruhig
denkenden Gebildeten Deutschlands einig sind, wird von dem einen Reichstage
verworfen, und auch von einem zweiten Reichstage ist ihre Annahme nur mit
knapper Not zu erlangen. Nur acht Stimmen brauchten umzuschlagen, und
sie wäre abermals verworfen gewesen! Sie ist nur angenommen worden mit
der Hilfe der polnischen Abgeordneten, die sonst nicht für die Regierung zu
stimmen pflegen, diesmal aber anders stimmten, weil ihnen die Folgen eines
Krieges mit Rußland vor Augen standen.

Die Vorfrage war die: sind wir genügend gerüstet, den uns feindlich
gesinnten Nachbarvölkern in einem Kriege gewachsen zu sein? Denn daß wir
wirtschaftlich zu einer Verstärkung unsers Heeres außer Stande seien, kann
doch kein vernünftiger Mensch glauben. Jene Frage ist offenbar keine poli¬
tische und auch keine Frage des Katholizismus. Man sollte daher denken,
daß auch ein sehr freisinniger und ein sehr katholisch gesinnter Mann jene
Frage ganz unbefangen erwägen und beantworten könnte. Ist es da nicht
schon traurig, zu sehen, daß eine solche Frage im deutscheu Reichstage lediglich
nach Parteigruppen beantwortet wird? Es ist ja möglich, daß es Deutsche
giebt, die wirklich glauben, wir wären, auch wenn wir hunderttausende von
Soldaten weniger hatten, doch den Franzosen überlegen, oder die glauben,
unsre Nachbarvölker seien so friedlich gesinnt, daß wir einen Krieg gar nicht


Grenzboten III 1893 43


Die Lehren der jüngsten Vergangenheit
von O, Bah r

le Militärvvrlage ist bewilligt. Die ernste Gefahr, die aus ihrer
Verwerfung drohte, ist für den Augenblick vorübergegangen. Aber
welche Lehren hat uns der ganze Verlauf dieser Angelegenheit
zurückgelassen! Eine Maßregel, bei der die Existenz unsers Vater¬
landes aus dem Spiele steht, über deren Notwendigkeit alle ruhig
denkenden Gebildeten Deutschlands einig sind, wird von dem einen Reichstage
verworfen, und auch von einem zweiten Reichstage ist ihre Annahme nur mit
knapper Not zu erlangen. Nur acht Stimmen brauchten umzuschlagen, und
sie wäre abermals verworfen gewesen! Sie ist nur angenommen worden mit
der Hilfe der polnischen Abgeordneten, die sonst nicht für die Regierung zu
stimmen pflegen, diesmal aber anders stimmten, weil ihnen die Folgen eines
Krieges mit Rußland vor Augen standen.

Die Vorfrage war die: sind wir genügend gerüstet, den uns feindlich
gesinnten Nachbarvölkern in einem Kriege gewachsen zu sein? Denn daß wir
wirtschaftlich zu einer Verstärkung unsers Heeres außer Stande seien, kann
doch kein vernünftiger Mensch glauben. Jene Frage ist offenbar keine poli¬
tische und auch keine Frage des Katholizismus. Man sollte daher denken,
daß auch ein sehr freisinniger und ein sehr katholisch gesinnter Mann jene
Frage ganz unbefangen erwägen und beantworten könnte. Ist es da nicht
schon traurig, zu sehen, daß eine solche Frage im deutscheu Reichstage lediglich
nach Parteigruppen beantwortet wird? Es ist ja möglich, daß es Deutsche
giebt, die wirklich glauben, wir wären, auch wenn wir hunderttausende von
Soldaten weniger hatten, doch den Franzosen überlegen, oder die glauben,
unsre Nachbarvölker seien so friedlich gesinnt, daß wir einen Krieg gar nicht


Grenzboten III 1893 43
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[0345] [Abbildung] Die Lehren der jüngsten Vergangenheit von O, Bah r le Militärvvrlage ist bewilligt. Die ernste Gefahr, die aus ihrer Verwerfung drohte, ist für den Augenblick vorübergegangen. Aber welche Lehren hat uns der ganze Verlauf dieser Angelegenheit zurückgelassen! Eine Maßregel, bei der die Existenz unsers Vater¬ landes aus dem Spiele steht, über deren Notwendigkeit alle ruhig denkenden Gebildeten Deutschlands einig sind, wird von dem einen Reichstage verworfen, und auch von einem zweiten Reichstage ist ihre Annahme nur mit knapper Not zu erlangen. Nur acht Stimmen brauchten umzuschlagen, und sie wäre abermals verworfen gewesen! Sie ist nur angenommen worden mit der Hilfe der polnischen Abgeordneten, die sonst nicht für die Regierung zu stimmen pflegen, diesmal aber anders stimmten, weil ihnen die Folgen eines Krieges mit Rußland vor Augen standen. Die Vorfrage war die: sind wir genügend gerüstet, den uns feindlich gesinnten Nachbarvölkern in einem Kriege gewachsen zu sein? Denn daß wir wirtschaftlich zu einer Verstärkung unsers Heeres außer Stande seien, kann doch kein vernünftiger Mensch glauben. Jene Frage ist offenbar keine poli¬ tische und auch keine Frage des Katholizismus. Man sollte daher denken, daß auch ein sehr freisinniger und ein sehr katholisch gesinnter Mann jene Frage ganz unbefangen erwägen und beantworten könnte. Ist es da nicht schon traurig, zu sehen, daß eine solche Frage im deutscheu Reichstage lediglich nach Parteigruppen beantwortet wird? Es ist ja möglich, daß es Deutsche giebt, die wirklich glauben, wir wären, auch wenn wir hunderttausende von Soldaten weniger hatten, doch den Franzosen überlegen, oder die glauben, unsre Nachbarvölker seien so friedlich gesinnt, daß wir einen Krieg gar nicht Grenzboten III 1893 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/345>, abgerufen am 23.11.2024.