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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Erziehung

s ist keine seltene Erscheinung, daß Werke bei ihrem Erscheinen
wenig Beachtung finden, aber mit der Zeit einen großen Leser¬
kreis erobern und damit auf das geistige Leben des Volks
Einfluß gewinnen. Sie Pflegen nicht zu den schlechtesten zu
gehören. Für den Urheber freilich hat das häufig etwas Tra¬
gisches; deun ehe er den Ruhm seiner Schriften genießt, ist er selbst dahin¬
gegangen, mit offner Klage ans den Lippen, oder im stillen verbittert wegen
der Erfolglosigkeit seiner Arbeit.

Die "Allgemeine Pädagogik" Joh. Friedr. Herbarts gehört zu diesen
Werken. Im Jahre 1806 erschienen, ist sie erst in unsern Tagen vou solcher
Bedeutung geworden, daß man sie mit Recht zu den bewegenden Knltur-
mächten rechnen kann. Bei ihrem Hervortreten wurde sie so wenig beachtet,
daß der Verfasser später klagte: "Die arme Pädagogik konnte nicht zu Worte
kommen." Die herrschende philosophische Richtung wirkte für die Aufnahme
des Buches sehr ungünstig. Fichte blühte noch, Schelling nahm den Anlauf
zur Theosophie, Hegel legte mit seiner Phänomenologie des Geistes den Grund
zu seinem schnellwachsendcn Ruhm. Dazu die große Fruchtbarkeit auf päda¬
gogischen Gebiete, die Nachwirkung der philanthropischen und Pestalozzischeu
Bewegung. Erschienen doch ungefähr zu derselben Zeit die pädagogischen
Werke von Pölitz, Schwarz, Riemeher, Jean Paul, Sunbcdisseu, Niethammer,
Wolke, Arndt. Stephani und Grnser. Aber wo sind diese geblieben, und wie
steht Herbnrts Werk heute dn? Sie alle gehören zum größten Teil der Ge¬
schichte der Pädagogik an, dieses lebt und wirkt wahrhaft fort, in tausend
Kanälen die Gedanken der deutschen Erzieher befruchtend und die wissenschaft¬
liche Pädagogik leitend.

Und was ist es um, was diesem Werke seine Bedeutung verleiht? Das,
was Jean Paul in der Vorrede zu seiner Levaua vou ihm rühmt: "Wo
Herbart die Muskel und Bogenseune des Charakters stärken und spannen
will, da tritt er kräftig in das besondre.und bestimmte hinein, und mit schönem
Rechte, da sein Wort und sein Gedankengang ihm selber einen zusprechen.
Gewiß bleibt für die Erziehung der Charakter das wahre Elementarfeuer."

Das ist es aber, was auch den Kernpunkt von dem kürzlich erschienenen




Deutsche Erziehung

s ist keine seltene Erscheinung, daß Werke bei ihrem Erscheinen
wenig Beachtung finden, aber mit der Zeit einen großen Leser¬
kreis erobern und damit auf das geistige Leben des Volks
Einfluß gewinnen. Sie Pflegen nicht zu den schlechtesten zu
gehören. Für den Urheber freilich hat das häufig etwas Tra¬
gisches; deun ehe er den Ruhm seiner Schriften genießt, ist er selbst dahin¬
gegangen, mit offner Klage ans den Lippen, oder im stillen verbittert wegen
der Erfolglosigkeit seiner Arbeit.

Die „Allgemeine Pädagogik" Joh. Friedr. Herbarts gehört zu diesen
Werken. Im Jahre 1806 erschienen, ist sie erst in unsern Tagen vou solcher
Bedeutung geworden, daß man sie mit Recht zu den bewegenden Knltur-
mächten rechnen kann. Bei ihrem Hervortreten wurde sie so wenig beachtet,
daß der Verfasser später klagte: „Die arme Pädagogik konnte nicht zu Worte
kommen." Die herrschende philosophische Richtung wirkte für die Aufnahme
des Buches sehr ungünstig. Fichte blühte noch, Schelling nahm den Anlauf
zur Theosophie, Hegel legte mit seiner Phänomenologie des Geistes den Grund
zu seinem schnellwachsendcn Ruhm. Dazu die große Fruchtbarkeit auf päda¬
gogischen Gebiete, die Nachwirkung der philanthropischen und Pestalozzischeu
Bewegung. Erschienen doch ungefähr zu derselben Zeit die pädagogischen
Werke von Pölitz, Schwarz, Riemeher, Jean Paul, Sunbcdisseu, Niethammer,
Wolke, Arndt. Stephani und Grnser. Aber wo sind diese geblieben, und wie
steht Herbnrts Werk heute dn? Sie alle gehören zum größten Teil der Ge¬
schichte der Pädagogik an, dieses lebt und wirkt wahrhaft fort, in tausend
Kanälen die Gedanken der deutschen Erzieher befruchtend und die wissenschaft¬
liche Pädagogik leitend.

Und was ist es um, was diesem Werke seine Bedeutung verleiht? Das,
was Jean Paul in der Vorrede zu seiner Levaua vou ihm rühmt: „Wo
Herbart die Muskel und Bogenseune des Charakters stärken und spannen
will, da tritt er kräftig in das besondre.und bestimmte hinein, und mit schönem
Rechte, da sein Wort und sein Gedankengang ihm selber einen zusprechen.
Gewiß bleibt für die Erziehung der Charakter das wahre Elementarfeuer."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/28>, abgerufen am 27.07.2024.