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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama
2

icht in weichlichem, kraftlosen Mitleid geht die Humanität der
Hellenen auf, sondern sie zeigt sich als ein mit Gerechtigkeit,
Mut und Thatkraft verschmolzenes Wohlwollen, wovon das
Mitleid nur eine unter vielen andern Äußerungen ist. Nament¬
lich aber leuchtet im althellenischer Charakterideal auch jener
Edelstein, der nach unsern Begriffen schlechterdings nicht fehlen darf, wenn ein
Mann nicht trotz aller sonstigen glänzenden und liebenswürdigen Eigenschaften
unsre Achtung verlieren soll: die Wahrhaftigkeit. Bekanntlich pflegt diese Eigen¬
schaft in der Knechtschaft verloren zu gehen, und auch die Griechen haben sie
später mit ihrer Unabhängigkeit verloren. Aber aus dem Umstände, daß Homer
den verschlagnen Odysseus zum Helden des schönern seiner beiden Gedichte ge¬
macht hat, auf UnWahrhaftigkeit als einen Grundzug des griechischen Nativncil-
charakters schon in der guten alten Zeit zu schließen, wäre doch voreilig. In
der Ilias bildet der geradsinnige Achilleus den Mittelpunkt. In der Odyssee
aber erscheinen die Schliche des Helden als entschuldbare und erlaubte Kriegs¬
listen zur Abwendung von Lebensgefahr. Als ein seefahrendes, kolonien¬
gründendes Volk müssen sich die Griechen unzähligemale mitten unter Bar¬
baren von einer Übermacht bedroht gefunden haben, der sie ohne die Waffen
eines scharfsinnigen Geistes und einer lebhaften Phantasie hätten unterliegen
müssen. Daher war es natürlich, daß neben dem ehrlichen, kühnen Achill der
ästige Odysseus ihr Nationalheld wurde; die thatsächliche Lage eines seefah¬
renden Volkes in barbarischer Zeit, nicht Lust an der Lüge spiegelt sich in der
Odyssee. Sophokles aber, der im Philoktet einen der Schliche des Odysseus
darzustellen hat, giebt dem ränkevollen Manne den edeln Sohn des Achilleus
bei und läßt dessen reinen Kindcrsinn über die Anschlüge des andern siegen.
So wird Philoktet zur Tragödie, nicht bloß des Mitleids, sondern anch der
Wahrhaftigkeit.

Nevptolemos, Aedilis Sohn, wie ihn Sophokles darstellt, ist der schöne
Charakter ^")^. In der altdeutschen Sage kann sich ihm nur Sieg¬
fried zur Seite stellen, in der ganzen neuern Litteratur sind ihm höchstens
Shakespeares Cordelia, Goethes Iphigenie und -- wenn man das Idyll neben




Die ätherische Volksmoral im Drama
2

icht in weichlichem, kraftlosen Mitleid geht die Humanität der
Hellenen auf, sondern sie zeigt sich als ein mit Gerechtigkeit,
Mut und Thatkraft verschmolzenes Wohlwollen, wovon das
Mitleid nur eine unter vielen andern Äußerungen ist. Nament¬
lich aber leuchtet im althellenischer Charakterideal auch jener
Edelstein, der nach unsern Begriffen schlechterdings nicht fehlen darf, wenn ein
Mann nicht trotz aller sonstigen glänzenden und liebenswürdigen Eigenschaften
unsre Achtung verlieren soll: die Wahrhaftigkeit. Bekanntlich pflegt diese Eigen¬
schaft in der Knechtschaft verloren zu gehen, und auch die Griechen haben sie
später mit ihrer Unabhängigkeit verloren. Aber aus dem Umstände, daß Homer
den verschlagnen Odysseus zum Helden des schönern seiner beiden Gedichte ge¬
macht hat, auf UnWahrhaftigkeit als einen Grundzug des griechischen Nativncil-
charakters schon in der guten alten Zeit zu schließen, wäre doch voreilig. In
der Ilias bildet der geradsinnige Achilleus den Mittelpunkt. In der Odyssee
aber erscheinen die Schliche des Helden als entschuldbare und erlaubte Kriegs¬
listen zur Abwendung von Lebensgefahr. Als ein seefahrendes, kolonien¬
gründendes Volk müssen sich die Griechen unzähligemale mitten unter Bar¬
baren von einer Übermacht bedroht gefunden haben, der sie ohne die Waffen
eines scharfsinnigen Geistes und einer lebhaften Phantasie hätten unterliegen
müssen. Daher war es natürlich, daß neben dem ehrlichen, kühnen Achill der
ästige Odysseus ihr Nationalheld wurde; die thatsächliche Lage eines seefah¬
renden Volkes in barbarischer Zeit, nicht Lust an der Lüge spiegelt sich in der
Odyssee. Sophokles aber, der im Philoktet einen der Schliche des Odysseus
darzustellen hat, giebt dem ränkevollen Manne den edeln Sohn des Achilleus
bei und läßt dessen reinen Kindcrsinn über die Anschlüge des andern siegen.
So wird Philoktet zur Tragödie, nicht bloß des Mitleids, sondern anch der
Wahrhaftigkeit.

Nevptolemos, Aedilis Sohn, wie ihn Sophokles darstellt, ist der schöne
Charakter ^«)^. In der altdeutschen Sage kann sich ihm nur Sieg¬
fried zur Seite stellen, in der ganzen neuern Litteratur sind ihm höchstens
Shakespeares Cordelia, Goethes Iphigenie und — wenn man das Idyll neben


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[0163] [Abbildung] Die ätherische Volksmoral im Drama 2 icht in weichlichem, kraftlosen Mitleid geht die Humanität der Hellenen auf, sondern sie zeigt sich als ein mit Gerechtigkeit, Mut und Thatkraft verschmolzenes Wohlwollen, wovon das Mitleid nur eine unter vielen andern Äußerungen ist. Nament¬ lich aber leuchtet im althellenischer Charakterideal auch jener Edelstein, der nach unsern Begriffen schlechterdings nicht fehlen darf, wenn ein Mann nicht trotz aller sonstigen glänzenden und liebenswürdigen Eigenschaften unsre Achtung verlieren soll: die Wahrhaftigkeit. Bekanntlich pflegt diese Eigen¬ schaft in der Knechtschaft verloren zu gehen, und auch die Griechen haben sie später mit ihrer Unabhängigkeit verloren. Aber aus dem Umstände, daß Homer den verschlagnen Odysseus zum Helden des schönern seiner beiden Gedichte ge¬ macht hat, auf UnWahrhaftigkeit als einen Grundzug des griechischen Nativncil- charakters schon in der guten alten Zeit zu schließen, wäre doch voreilig. In der Ilias bildet der geradsinnige Achilleus den Mittelpunkt. In der Odyssee aber erscheinen die Schliche des Helden als entschuldbare und erlaubte Kriegs¬ listen zur Abwendung von Lebensgefahr. Als ein seefahrendes, kolonien¬ gründendes Volk müssen sich die Griechen unzähligemale mitten unter Bar¬ baren von einer Übermacht bedroht gefunden haben, der sie ohne die Waffen eines scharfsinnigen Geistes und einer lebhaften Phantasie hätten unterliegen müssen. Daher war es natürlich, daß neben dem ehrlichen, kühnen Achill der ästige Odysseus ihr Nationalheld wurde; die thatsächliche Lage eines seefah¬ renden Volkes in barbarischer Zeit, nicht Lust an der Lüge spiegelt sich in der Odyssee. Sophokles aber, der im Philoktet einen der Schliche des Odysseus darzustellen hat, giebt dem ränkevollen Manne den edeln Sohn des Achilleus bei und läßt dessen reinen Kindcrsinn über die Anschlüge des andern siegen. So wird Philoktet zur Tragödie, nicht bloß des Mitleids, sondern anch der Wahrhaftigkeit. Nevptolemos, Aedilis Sohn, wie ihn Sophokles darstellt, ist der schöne Charakter ^«)^. In der altdeutschen Sage kann sich ihm nur Sieg¬ fried zur Seite stellen, in der ganzen neuern Litteratur sind ihm höchstens Shakespeares Cordelia, Goethes Iphigenie und — wenn man das Idyll neben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/163>, abgerufen am 23.11.2024.