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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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daß das dem Flnggeschöpf angeborne großartige Feingefühl für das Gleich¬
gewicht jeder andern Kreatur in solcher Vollendung für immer versagt bleiben
wird. Abgesehen vom Fluge bekundet sich dies Bnlaneirvermvgen auch
darin, daß der Vogel ans dünnem Aste, auf einem Fuße ruhend, zu schlafe"
vermag.

Aber auch den Mensche" ist ein hervorragendes Gleichgewichtsgefühl mit¬
gegeben; dafür ist scho" der gewöhnliche, aufrechte Gang ein Beweis. Und
wie sehr durch Übung diese Fähigkeit weiter entwickelt werde" ka"", sehe"
wir am Seiltänzer ""d am Radfahrer. Wer hätte es vor wenigen Jahr¬
zehnten für möglich gehalten, daß sich Mensche" ans "Stahlrvssen" mit der
Schnelligkeit des Hirsches ans glatter Nah" vorwärts bringe" würden? Alle
andern Bedenken beiseite gesetzt, schon ein solches Valaneirvermögcn würde
niemand dem Menschen zugetraut haben. Heute wissen wir, daß die Schwie¬
rigkeiten ziemlich leicht zu überwinden sind, ja daß das schnellrollende Rad
sogar in sich selbst ein großes Kapital von Gleichgewicht bildet, so groß, das;
der dahinsansende Reiter schon bedeutende Fehler machen kann, ohne das Rad
zu Falle zu bringen.

So läßt sich denn heute von, nüchternsten Standpunkte sagen, daß Dädalos
durchaus nicht für immer ans Erden eine Mythe zu bleiben braucht. Bei
einem richtig hergestellten Apparat werden, um es nochmals zu betonen, die
Ansprüche an die Muskelkraft sehr gering sein. Sobald es gelänge, einen
blitzschnell wirkende" Kontakt zwischen dem Gleichgewichtsgefühl und de" künst¬
liche" Fittichen zu schaffen, würde der Mensch in der That fliege" können.

Ob das freilich zum Glücke der Menschheit beitragen würde?




Proletarierdichter und Proletarierlieder
(Schluß)

vn den ander" Wünschen, die sich im Herzen eines Proletariers
regen, ist der nach Bildung besonders lebendig. Er ist mit
schuld daran, daß der Proletarier Bedenken trägt, sich zu ver¬
heirate". Wem, nun sei" Bube begabt und lernlustig wäre,
"wie soll der Arme diesem Drang genügen?"

Den" an die Überlegenheit der Nourgevissöhne, die die Hähern Schulen "fre-
gnentiren" oder sich auf lluiversitäteu "Stndireus halber aufhalten," wollen


daß das dem Flnggeschöpf angeborne großartige Feingefühl für das Gleich¬
gewicht jeder andern Kreatur in solcher Vollendung für immer versagt bleiben
wird. Abgesehen vom Fluge bekundet sich dies Bnlaneirvermvgen auch
darin, daß der Vogel ans dünnem Aste, auf einem Fuße ruhend, zu schlafe»
vermag.

Aber auch den Mensche» ist ein hervorragendes Gleichgewichtsgefühl mit¬
gegeben; dafür ist scho» der gewöhnliche, aufrechte Gang ein Beweis. Und
wie sehr durch Übung diese Fähigkeit weiter entwickelt werde» ka»», sehe»
wir am Seiltänzer »»d am Radfahrer. Wer hätte es vor wenigen Jahr¬
zehnten für möglich gehalten, daß sich Mensche» ans „Stahlrvssen" mit der
Schnelligkeit des Hirsches ans glatter Nah» vorwärts bringe» würden? Alle
andern Bedenken beiseite gesetzt, schon ein solches Valaneirvermögcn würde
niemand dem Menschen zugetraut haben. Heute wissen wir, daß die Schwie¬
rigkeiten ziemlich leicht zu überwinden sind, ja daß das schnellrollende Rad
sogar in sich selbst ein großes Kapital von Gleichgewicht bildet, so groß, das;
der dahinsansende Reiter schon bedeutende Fehler machen kann, ohne das Rad
zu Falle zu bringen.

So läßt sich denn heute von, nüchternsten Standpunkte sagen, daß Dädalos
durchaus nicht für immer ans Erden eine Mythe zu bleiben braucht. Bei
einem richtig hergestellten Apparat werden, um es nochmals zu betonen, die
Ansprüche an die Muskelkraft sehr gering sein. Sobald es gelänge, einen
blitzschnell wirkende» Kontakt zwischen dem Gleichgewichtsgefühl und de» künst¬
liche» Fittichen zu schaffen, würde der Mensch in der That fliege» können.

Ob das freilich zum Glücke der Menschheit beitragen würde?




Proletarierdichter und Proletarierlieder
(Schluß)

vn den ander» Wünschen, die sich im Herzen eines Proletariers
regen, ist der nach Bildung besonders lebendig. Er ist mit
schuld daran, daß der Proletarier Bedenken trägt, sich zu ver¬
heirate». Wem, nun sei» Bube begabt und lernlustig wäre,
„wie soll der Arme diesem Drang genügen?"

Den» an die Überlegenheit der Nourgevissöhne, die die Hähern Schulen „fre-
gnentiren" oder sich auf lluiversitäteu „Stndireus halber aufhalten," wollen


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[0077] daß das dem Flnggeschöpf angeborne großartige Feingefühl für das Gleich¬ gewicht jeder andern Kreatur in solcher Vollendung für immer versagt bleiben wird. Abgesehen vom Fluge bekundet sich dies Bnlaneirvermvgen auch darin, daß der Vogel ans dünnem Aste, auf einem Fuße ruhend, zu schlafe» vermag. Aber auch den Mensche» ist ein hervorragendes Gleichgewichtsgefühl mit¬ gegeben; dafür ist scho» der gewöhnliche, aufrechte Gang ein Beweis. Und wie sehr durch Übung diese Fähigkeit weiter entwickelt werde» ka»», sehe» wir am Seiltänzer »»d am Radfahrer. Wer hätte es vor wenigen Jahr¬ zehnten für möglich gehalten, daß sich Mensche» ans „Stahlrvssen" mit der Schnelligkeit des Hirsches ans glatter Nah» vorwärts bringe» würden? Alle andern Bedenken beiseite gesetzt, schon ein solches Valaneirvermögcn würde niemand dem Menschen zugetraut haben. Heute wissen wir, daß die Schwie¬ rigkeiten ziemlich leicht zu überwinden sind, ja daß das schnellrollende Rad sogar in sich selbst ein großes Kapital von Gleichgewicht bildet, so groß, das; der dahinsansende Reiter schon bedeutende Fehler machen kann, ohne das Rad zu Falle zu bringen. So läßt sich denn heute von, nüchternsten Standpunkte sagen, daß Dädalos durchaus nicht für immer ans Erden eine Mythe zu bleiben braucht. Bei einem richtig hergestellten Apparat werden, um es nochmals zu betonen, die Ansprüche an die Muskelkraft sehr gering sein. Sobald es gelänge, einen blitzschnell wirkende» Kontakt zwischen dem Gleichgewichtsgefühl und de» künst¬ liche» Fittichen zu schaffen, würde der Mensch in der That fliege» können. Ob das freilich zum Glücke der Menschheit beitragen würde? Proletarierdichter und Proletarierlieder (Schluß) vn den ander» Wünschen, die sich im Herzen eines Proletariers regen, ist der nach Bildung besonders lebendig. Er ist mit schuld daran, daß der Proletarier Bedenken trägt, sich zu ver¬ heirate». Wem, nun sei» Bube begabt und lernlustig wäre, „wie soll der Arme diesem Drang genügen?" Den» an die Überlegenheit der Nourgevissöhne, die die Hähern Schulen „fre- gnentiren" oder sich auf lluiversitäteu „Stndireus halber aufhalten," wollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/77>, abgerufen am 03.07.2024.