Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Frankreichs, als erste Macht Europas zu sterben und sich, genesen, als eine
der zweiten zu erheben.

Die Frcmzöslinge am Genfersee, die sich um der Sonne Frankreichs
wärmten, so lange diese höher am Himmel stand, fröstelt es im germanischen
Lichr. Was in Europa schwach, krank und verlogen ist, fühlt sich von Frank¬
reich angezogen und schüttelt sich bei dem Gedanken an Deutschland. Auch
die Broschüre, von der wir hier sprechen, ist so ein politisches Zähneklappen.
Aber wir lassen uns davon nicht anstecken. Welche Philosophie könnte uns
auch überzeugen, daß Frankreichs Schwäche durch die Verminderung unsrer
Kraft zu heben sei? Wir wissen wohl, daß der Glaube an den tierischen
Magnetismus wie eine Geistesepidemie in Frankreichs Gerichtssäle und Spitäler
eingedrungen ist, aber Germania ist weder so abergläubisch noch so nervös,
Frankreichs Medium zu spielen. Das politische Gewitter des ausgehenden
Jahrhunderts, dessen Schwüle auch wir empfinden, sammelt sich weiter im
Westen, als Herr Tallichet meint. Er möge seine Augen öffnen, so wird er
die Wolken näher bei Genf als bei Straßburg sich verdichten sehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Mein wunderlicher Freund.

Ich lernte ihn zufällig im Rosenthal bei
Bonvrand kennen, wo wir beide während der schönen Jahreszeit bei unsern
Mvrgenspaziergnngen unsern Kaffee zu trinken pflegen. Wir waren uns schon
wiederholt begegnet und hatten dann gelegentlich an demselben Tische Platz ge¬
nommen. Zufällig; er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, sodcisz ich ihn erst
erkannte, als er diese beiseite legte. Dann waren wir in ein Gespräch gekommen,
das und einem natürlichen Meinungsaustausch über deu schönen Morgen begann
und dann zur Bestätigung der schon von uns gemachten Beobachtung führte, daß
er seinen Kaffee trank, ehe er sich ans seinem Schlendergang in die Waldniederung
vertiefte, wcihreud es bei mir die Krönung und Belohnung für den meiner zu¬
nehmenden Beleibtheit dargebrachten Opfermarsch bildete. Dann waren wir auf
interessante Tagesfragen übergegangen, und es hatte sich für einen lebhaften Aus¬
tausch genügende Verschiedenheit der Meinungen gezeigt. Wir hatten Gefallen an
einander gefunden, setzten uus in der Folge öfter zusammen, ehe er in den Wald und
ich zurück in die Stadt ging, und hatten uus schließlich vom Kellner ein für allemal
den Tisch belegen lassen, an dem wir uns jetzt ziemlich regelmäßig zusammenfanden.
Er ist eine lebhafte Natur, und seine oft paradoxen Ansichten machen mir Spaß.
Manchmal weiß ich nicht, ob er im Ernst oder im Scherz spricht, wenn er mit
blitzenden blauen Augen eine Sache erörtert oder versieht. Lache ich dann, so kann er
zornig werden und läuft mit langen Schritten davon. Aber der Ärger ist nicht
nachhaltig, am andern Tage ruft er mir wieder mit erquickend heitrer Miene sein
frisches Guten Morgen zu, wenn er rasch und elastisch in den Garten einbiegt.


Grenzboten II 18S3 72
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Frankreichs, als erste Macht Europas zu sterben und sich, genesen, als eine
der zweiten zu erheben.

Die Frcmzöslinge am Genfersee, die sich um der Sonne Frankreichs
wärmten, so lange diese höher am Himmel stand, fröstelt es im germanischen
Lichr. Was in Europa schwach, krank und verlogen ist, fühlt sich von Frank¬
reich angezogen und schüttelt sich bei dem Gedanken an Deutschland. Auch
die Broschüre, von der wir hier sprechen, ist so ein politisches Zähneklappen.
Aber wir lassen uns davon nicht anstecken. Welche Philosophie könnte uns
auch überzeugen, daß Frankreichs Schwäche durch die Verminderung unsrer
Kraft zu heben sei? Wir wissen wohl, daß der Glaube an den tierischen
Magnetismus wie eine Geistesepidemie in Frankreichs Gerichtssäle und Spitäler
eingedrungen ist, aber Germania ist weder so abergläubisch noch so nervös,
Frankreichs Medium zu spielen. Das politische Gewitter des ausgehenden
Jahrhunderts, dessen Schwüle auch wir empfinden, sammelt sich weiter im
Westen, als Herr Tallichet meint. Er möge seine Augen öffnen, so wird er
die Wolken näher bei Genf als bei Straßburg sich verdichten sehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Mein wunderlicher Freund.

Ich lernte ihn zufällig im Rosenthal bei
Bonvrand kennen, wo wir beide während der schönen Jahreszeit bei unsern
Mvrgenspaziergnngen unsern Kaffee zu trinken pflegen. Wir waren uns schon
wiederholt begegnet und hatten dann gelegentlich an demselben Tische Platz ge¬
nommen. Zufällig; er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, sodcisz ich ihn erst
erkannte, als er diese beiseite legte. Dann waren wir in ein Gespräch gekommen,
das und einem natürlichen Meinungsaustausch über deu schönen Morgen begann
und dann zur Bestätigung der schon von uns gemachten Beobachtung führte, daß
er seinen Kaffee trank, ehe er sich ans seinem Schlendergang in die Waldniederung
vertiefte, wcihreud es bei mir die Krönung und Belohnung für den meiner zu¬
nehmenden Beleibtheit dargebrachten Opfermarsch bildete. Dann waren wir auf
interessante Tagesfragen übergegangen, und es hatte sich für einen lebhaften Aus¬
tausch genügende Verschiedenheit der Meinungen gezeigt. Wir hatten Gefallen an
einander gefunden, setzten uus in der Folge öfter zusammen, ehe er in den Wald und
ich zurück in die Stadt ging, und hatten uus schließlich vom Kellner ein für allemal
den Tisch belegen lassen, an dem wir uns jetzt ziemlich regelmäßig zusammenfanden.
Er ist eine lebhafte Natur, und seine oft paradoxen Ansichten machen mir Spaß.
Manchmal weiß ich nicht, ob er im Ernst oder im Scherz spricht, wenn er mit
blitzenden blauen Augen eine Sache erörtert oder versieht. Lache ich dann, so kann er
zornig werden und läuft mit langen Schritten davon. Aber der Ärger ist nicht
nachhaltig, am andern Tage ruft er mir wieder mit erquickend heitrer Miene sein
frisches Guten Morgen zu, wenn er rasch und elastisch in den Garten einbiegt.


Grenzboten II 18S3 72
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0578" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215033"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2232" prev="#ID_2231"> Frankreichs, als erste Macht Europas zu sterben und sich, genesen, als eine<lb/>
der zweiten zu erheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2233"> Die Frcmzöslinge am Genfersee, die sich um der Sonne Frankreichs<lb/>
wärmten, so lange diese höher am Himmel stand, fröstelt es im germanischen<lb/>
Lichr. Was in Europa schwach, krank und verlogen ist, fühlt sich von Frank¬<lb/>
reich angezogen und schüttelt sich bei dem Gedanken an Deutschland. Auch<lb/>
die Broschüre, von der wir hier sprechen, ist so ein politisches Zähneklappen.<lb/>
Aber wir lassen uns davon nicht anstecken. Welche Philosophie könnte uns<lb/>
auch überzeugen, daß Frankreichs Schwäche durch die Verminderung unsrer<lb/>
Kraft zu heben sei? Wir wissen wohl, daß der Glaube an den tierischen<lb/>
Magnetismus wie eine Geistesepidemie in Frankreichs Gerichtssäle und Spitäler<lb/>
eingedrungen ist, aber Germania ist weder so abergläubisch noch so nervös,<lb/>
Frankreichs Medium zu spielen. Das politische Gewitter des ausgehenden<lb/>
Jahrhunderts, dessen Schwüle auch wir empfinden, sammelt sich weiter im<lb/>
Westen, als Herr Tallichet meint. Er möge seine Augen öffnen, so wird er<lb/>
die Wolken näher bei Genf als bei Straßburg sich verdichten sehen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Mein wunderlicher Freund.</head>
            <p xml:id="ID_2234"> Ich lernte ihn zufällig im Rosenthal bei<lb/>
Bonvrand kennen, wo wir beide während der schönen Jahreszeit bei unsern<lb/>
Mvrgenspaziergnngen unsern Kaffee zu trinken pflegen. Wir waren uns schon<lb/>
wiederholt begegnet und hatten dann gelegentlich an demselben Tische Platz ge¬<lb/>
nommen. Zufällig; er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, sodcisz ich ihn erst<lb/>
erkannte, als er diese beiseite legte. Dann waren wir in ein Gespräch gekommen,<lb/>
das und einem natürlichen Meinungsaustausch über deu schönen Morgen begann<lb/>
und dann zur Bestätigung der schon von uns gemachten Beobachtung führte, daß<lb/>
er seinen Kaffee trank, ehe er sich ans seinem Schlendergang in die Waldniederung<lb/>
vertiefte, wcihreud es bei mir die Krönung und Belohnung für den meiner zu¬<lb/>
nehmenden Beleibtheit dargebrachten Opfermarsch bildete. Dann waren wir auf<lb/>
interessante Tagesfragen übergegangen, und es hatte sich für einen lebhaften Aus¬<lb/>
tausch genügende Verschiedenheit der Meinungen gezeigt. Wir hatten Gefallen an<lb/>
einander gefunden, setzten uus in der Folge öfter zusammen, ehe er in den Wald und<lb/>
ich zurück in die Stadt ging, und hatten uus schließlich vom Kellner ein für allemal<lb/>
den Tisch belegen lassen, an dem wir uns jetzt ziemlich regelmäßig zusammenfanden.<lb/>
Er ist eine lebhafte Natur, und seine oft paradoxen Ansichten machen mir Spaß.<lb/>
Manchmal weiß ich nicht, ob er im Ernst oder im Scherz spricht, wenn er mit<lb/>
blitzenden blauen Augen eine Sache erörtert oder versieht. Lache ich dann, so kann er<lb/>
zornig werden und läuft mit langen Schritten davon. Aber der Ärger ist nicht<lb/>
nachhaltig, am andern Tage ruft er mir wieder mit erquickend heitrer Miene sein<lb/>
frisches Guten Morgen zu, wenn er rasch und elastisch in den Garten einbiegt.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 18S3 72</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0578] Maßgebliches und Unmaßgebliches Frankreichs, als erste Macht Europas zu sterben und sich, genesen, als eine der zweiten zu erheben. Die Frcmzöslinge am Genfersee, die sich um der Sonne Frankreichs wärmten, so lange diese höher am Himmel stand, fröstelt es im germanischen Lichr. Was in Europa schwach, krank und verlogen ist, fühlt sich von Frank¬ reich angezogen und schüttelt sich bei dem Gedanken an Deutschland. Auch die Broschüre, von der wir hier sprechen, ist so ein politisches Zähneklappen. Aber wir lassen uns davon nicht anstecken. Welche Philosophie könnte uns auch überzeugen, daß Frankreichs Schwäche durch die Verminderung unsrer Kraft zu heben sei? Wir wissen wohl, daß der Glaube an den tierischen Magnetismus wie eine Geistesepidemie in Frankreichs Gerichtssäle und Spitäler eingedrungen ist, aber Germania ist weder so abergläubisch noch so nervös, Frankreichs Medium zu spielen. Das politische Gewitter des ausgehenden Jahrhunderts, dessen Schwüle auch wir empfinden, sammelt sich weiter im Westen, als Herr Tallichet meint. Er möge seine Augen öffnen, so wird er die Wolken näher bei Genf als bei Straßburg sich verdichten sehen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Mein wunderlicher Freund. Ich lernte ihn zufällig im Rosenthal bei Bonvrand kennen, wo wir beide während der schönen Jahreszeit bei unsern Mvrgenspaziergnngen unsern Kaffee zu trinken pflegen. Wir waren uns schon wiederholt begegnet und hatten dann gelegentlich an demselben Tische Platz ge¬ nommen. Zufällig; er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, sodcisz ich ihn erst erkannte, als er diese beiseite legte. Dann waren wir in ein Gespräch gekommen, das und einem natürlichen Meinungsaustausch über deu schönen Morgen begann und dann zur Bestätigung der schon von uns gemachten Beobachtung führte, daß er seinen Kaffee trank, ehe er sich ans seinem Schlendergang in die Waldniederung vertiefte, wcihreud es bei mir die Krönung und Belohnung für den meiner zu¬ nehmenden Beleibtheit dargebrachten Opfermarsch bildete. Dann waren wir auf interessante Tagesfragen übergegangen, und es hatte sich für einen lebhaften Aus¬ tausch genügende Verschiedenheit der Meinungen gezeigt. Wir hatten Gefallen an einander gefunden, setzten uus in der Folge öfter zusammen, ehe er in den Wald und ich zurück in die Stadt ging, und hatten uus schließlich vom Kellner ein für allemal den Tisch belegen lassen, an dem wir uns jetzt ziemlich regelmäßig zusammenfanden. Er ist eine lebhafte Natur, und seine oft paradoxen Ansichten machen mir Spaß. Manchmal weiß ich nicht, ob er im Ernst oder im Scherz spricht, wenn er mit blitzenden blauen Augen eine Sache erörtert oder versieht. Lache ich dann, so kann er zornig werden und läuft mit langen Schritten davon. Aber der Ärger ist nicht nachhaltig, am andern Tage ruft er mir wieder mit erquickend heitrer Miene sein frisches Guten Morgen zu, wenn er rasch und elastisch in den Garten einbiegt. Grenzboten II 18S3 72

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/578
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/578>, abgerufen am 03.07.2024.