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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

eim die höchste der Künste lehrbar wäre, dann müßte es heute
bei der Überfülle ausgezeichneter Lehrmittel von tüchtigen Staats¬
männern wimmeln. Vielleicht wimmelt es auch, und vielleicht
steht es eben darum so erbärmlich um den modernen Staat,
weil viel Köche den Brei verderben. Von Röscher gilt einiger¬
maßen, was Schopenhauer von Goethe sagt, daß es ihm mehr auf die genaue
Beschreibung der Dinge ankomme, als auf die Ergründung ihrer Ursachen.
Er hätte daher sein Buch") füglich eine Naturbeschreibung statt einer Natur¬
lehre der Staatsformen nennen können. "Geschichtliche" setzt er hinzu, weil
er die verschiednen Staatsformen in der Reihenfolge beschreibt, wie sie im
Verlauf der Geschichte auf einander zu folgen Pflegen. Er handelt ab: das
Urkönigtum, die Aristokratie (Ritter-, Priester- und Städtearistokratie), die ab¬
solute Monarchie, die Demokratie, Plutokratie und das Proletariat nebst
Sozialismus und Kommunismus, endlich den Cäsarismus. Jellinek hat in
der Neuen Freien Presse diese Zugrundelegung der alten Kategorien scharf
getadelt; die Fülle politischer Lebensformen, wie sie namentlich die Neuzeit
hervortreibe, lasse sich darin nicht unterbringen. Das können wir nicht finden;
bei allen Wandlungen handelt es sich doch immer darum, welcher Anteil be
der Entscheidung über die öffentlichen Angelegenheiten dem Einen an der Spitze,
den Vornehmen oder Reichen und der Masse zufallen soll. Jellinek meint, schon
dadurch sei die UnHaltbarkeit von Roschers Auffassung erwiesen, daß nach ihm
die drei Haupttypen gewöhnlich gemischt und fast nirgends rein vorkommen



*) Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie von
Wilhelm Röscher. Stuttgart, I. G. Cottas Nachfolger, 1892.
Grenzboten II 1893 55


Zwei Bücher über Politik

eim die höchste der Künste lehrbar wäre, dann müßte es heute
bei der Überfülle ausgezeichneter Lehrmittel von tüchtigen Staats¬
männern wimmeln. Vielleicht wimmelt es auch, und vielleicht
steht es eben darum so erbärmlich um den modernen Staat,
weil viel Köche den Brei verderben. Von Röscher gilt einiger¬
maßen, was Schopenhauer von Goethe sagt, daß es ihm mehr auf die genaue
Beschreibung der Dinge ankomme, als auf die Ergründung ihrer Ursachen.
Er hätte daher sein Buch") füglich eine Naturbeschreibung statt einer Natur¬
lehre der Staatsformen nennen können. „Geschichtliche" setzt er hinzu, weil
er die verschiednen Staatsformen in der Reihenfolge beschreibt, wie sie im
Verlauf der Geschichte auf einander zu folgen Pflegen. Er handelt ab: das
Urkönigtum, die Aristokratie (Ritter-, Priester- und Städtearistokratie), die ab¬
solute Monarchie, die Demokratie, Plutokratie und das Proletariat nebst
Sozialismus und Kommunismus, endlich den Cäsarismus. Jellinek hat in
der Neuen Freien Presse diese Zugrundelegung der alten Kategorien scharf
getadelt; die Fülle politischer Lebensformen, wie sie namentlich die Neuzeit
hervortreibe, lasse sich darin nicht unterbringen. Das können wir nicht finden;
bei allen Wandlungen handelt es sich doch immer darum, welcher Anteil be
der Entscheidung über die öffentlichen Angelegenheiten dem Einen an der Spitze,
den Vornehmen oder Reichen und der Masse zufallen soll. Jellinek meint, schon
dadurch sei die UnHaltbarkeit von Roschers Auffassung erwiesen, daß nach ihm
die drei Haupttypen gewöhnlich gemischt und fast nirgends rein vorkommen



*) Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie von
Wilhelm Röscher. Stuttgart, I. G. Cottas Nachfolger, 1892.
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[0442] [Abbildung] Zwei Bücher über Politik eim die höchste der Künste lehrbar wäre, dann müßte es heute bei der Überfülle ausgezeichneter Lehrmittel von tüchtigen Staats¬ männern wimmeln. Vielleicht wimmelt es auch, und vielleicht steht es eben darum so erbärmlich um den modernen Staat, weil viel Köche den Brei verderben. Von Röscher gilt einiger¬ maßen, was Schopenhauer von Goethe sagt, daß es ihm mehr auf die genaue Beschreibung der Dinge ankomme, als auf die Ergründung ihrer Ursachen. Er hätte daher sein Buch") füglich eine Naturbeschreibung statt einer Natur¬ lehre der Staatsformen nennen können. „Geschichtliche" setzt er hinzu, weil er die verschiednen Staatsformen in der Reihenfolge beschreibt, wie sie im Verlauf der Geschichte auf einander zu folgen Pflegen. Er handelt ab: das Urkönigtum, die Aristokratie (Ritter-, Priester- und Städtearistokratie), die ab¬ solute Monarchie, die Demokratie, Plutokratie und das Proletariat nebst Sozialismus und Kommunismus, endlich den Cäsarismus. Jellinek hat in der Neuen Freien Presse diese Zugrundelegung der alten Kategorien scharf getadelt; die Fülle politischer Lebensformen, wie sie namentlich die Neuzeit hervortreibe, lasse sich darin nicht unterbringen. Das können wir nicht finden; bei allen Wandlungen handelt es sich doch immer darum, welcher Anteil be der Entscheidung über die öffentlichen Angelegenheiten dem Einen an der Spitze, den Vornehmen oder Reichen und der Masse zufallen soll. Jellinek meint, schon dadurch sei die UnHaltbarkeit von Roschers Auffassung erwiesen, daß nach ihm die drei Haupttypen gewöhnlich gemischt und fast nirgends rein vorkommen *) Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie von Wilhelm Röscher. Stuttgart, I. G. Cottas Nachfolger, 1892. Grenzboten II 1893 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/442>, abgerufen am 29.06.2024.