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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Erziehung zum Rachekrieg

er Professur der Geschichte an der Pariser philosophischen Fakultät,
Ernest Lapisse, ist vor kurzem zu einem der vierzig Unsterblichen
im Palmenfrack erkoren worden. Französische Blätter haben bei
dieser Gelegenheit die hinreißende Beredsamkeit und den rastlosen
Eifer gerühmt, womit dieser Gelehrte die nationale Wiedergeburt
in der französischen Jugend herbeizuführen strebt. Unter der nationalen Wieder¬
geburt aber versteht ein großer Teil der Franzosen nicht bloß körperliche Abhär¬
tung, sittliche Erstarkung und kriegerische Tüchtigkeit, sondern auch die Rück¬
eroberung von Elsaß und Lothringen, also den Rachekrieg. Zu diesen leiden¬
schaftlichen Feinden Deutschlands gehört auch Lcwisse. Erst kürzlich hat dies¬
seits der Vogesen jemand auf sein oft aufgelegtes Lehrbuch hingewiesen, in
dem er den nenn- bis elfjährigen Schulkindern zuruft: "Kiuder, eure Aufgabe
ist es, eure Väter zu rächen, die bei Metz und Sedan besiegt wurden; das ist
eure Pflicht, die heilige Pflicht eures Lebens. Immer müßt ihr dessen ein-
gedenk sein!"

Man hätte es in Deutschland verstanden, wenn auch nicht entschuldigt,
daß in den ersten Jahren nach dem furchtbaren Kriege die Dracheusaat in die
Herzen der Kiuder gestreut wurde. Daß aber jetzt noch, wo die während des
Krieges gebornen bereits unter den Fahnen stehen, in den französischen Schule"
die Jugend zum Bruch völkerrechtlicher Verträge angefeuert wird, das muß
unser Gefühl um so mehr befremden, als der Unterricht in Frankreich noch
viel mehr amtlicher Natur ist als bei uns. Aber je befremdlicher, desto lehr¬
reicher. Deshalb haben wir uns der Mühe unterzogen, eine Keine Blüteulese
ans französischen Schulbüchern der jüngsten Zeit zu sammeln und sie den
deutschen Leser" in einem Augenblicke vorzulegen, wo hie und da eiuer glauben
>"acheu möchte, die Franzose" dächte" im Ernst a" keinen Rachekrieg.


Greuzdvtc" II 189Z -l!)


Die Erziehung zum Rachekrieg

er Professur der Geschichte an der Pariser philosophischen Fakultät,
Ernest Lapisse, ist vor kurzem zu einem der vierzig Unsterblichen
im Palmenfrack erkoren worden. Französische Blätter haben bei
dieser Gelegenheit die hinreißende Beredsamkeit und den rastlosen
Eifer gerühmt, womit dieser Gelehrte die nationale Wiedergeburt
in der französischen Jugend herbeizuführen strebt. Unter der nationalen Wieder¬
geburt aber versteht ein großer Teil der Franzosen nicht bloß körperliche Abhär¬
tung, sittliche Erstarkung und kriegerische Tüchtigkeit, sondern auch die Rück¬
eroberung von Elsaß und Lothringen, also den Rachekrieg. Zu diesen leiden¬
schaftlichen Feinden Deutschlands gehört auch Lcwisse. Erst kürzlich hat dies¬
seits der Vogesen jemand auf sein oft aufgelegtes Lehrbuch hingewiesen, in
dem er den nenn- bis elfjährigen Schulkindern zuruft: „Kiuder, eure Aufgabe
ist es, eure Väter zu rächen, die bei Metz und Sedan besiegt wurden; das ist
eure Pflicht, die heilige Pflicht eures Lebens. Immer müßt ihr dessen ein-
gedenk sein!"

Man hätte es in Deutschland verstanden, wenn auch nicht entschuldigt,
daß in den ersten Jahren nach dem furchtbaren Kriege die Dracheusaat in die
Herzen der Kiuder gestreut wurde. Daß aber jetzt noch, wo die während des
Krieges gebornen bereits unter den Fahnen stehen, in den französischen Schule»
die Jugend zum Bruch völkerrechtlicher Verträge angefeuert wird, das muß
unser Gefühl um so mehr befremden, als der Unterricht in Frankreich noch
viel mehr amtlicher Natur ist als bei uns. Aber je befremdlicher, desto lehr¬
reicher. Deshalb haben wir uns der Mühe unterzogen, eine Keine Blüteulese
ans französischen Schulbüchern der jüngsten Zeit zu sammeln und sie den
deutschen Leser» in einem Augenblicke vorzulegen, wo hie und da eiuer glauben
>"acheu möchte, die Franzose» dächte» im Ernst a» keinen Rachekrieg.


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[0394] [Abbildung] Die Erziehung zum Rachekrieg er Professur der Geschichte an der Pariser philosophischen Fakultät, Ernest Lapisse, ist vor kurzem zu einem der vierzig Unsterblichen im Palmenfrack erkoren worden. Französische Blätter haben bei dieser Gelegenheit die hinreißende Beredsamkeit und den rastlosen Eifer gerühmt, womit dieser Gelehrte die nationale Wiedergeburt in der französischen Jugend herbeizuführen strebt. Unter der nationalen Wieder¬ geburt aber versteht ein großer Teil der Franzosen nicht bloß körperliche Abhär¬ tung, sittliche Erstarkung und kriegerische Tüchtigkeit, sondern auch die Rück¬ eroberung von Elsaß und Lothringen, also den Rachekrieg. Zu diesen leiden¬ schaftlichen Feinden Deutschlands gehört auch Lcwisse. Erst kürzlich hat dies¬ seits der Vogesen jemand auf sein oft aufgelegtes Lehrbuch hingewiesen, in dem er den nenn- bis elfjährigen Schulkindern zuruft: „Kiuder, eure Aufgabe ist es, eure Väter zu rächen, die bei Metz und Sedan besiegt wurden; das ist eure Pflicht, die heilige Pflicht eures Lebens. Immer müßt ihr dessen ein- gedenk sein!" Man hätte es in Deutschland verstanden, wenn auch nicht entschuldigt, daß in den ersten Jahren nach dem furchtbaren Kriege die Dracheusaat in die Herzen der Kiuder gestreut wurde. Daß aber jetzt noch, wo die während des Krieges gebornen bereits unter den Fahnen stehen, in den französischen Schule» die Jugend zum Bruch völkerrechtlicher Verträge angefeuert wird, das muß unser Gefühl um so mehr befremden, als der Unterricht in Frankreich noch viel mehr amtlicher Natur ist als bei uns. Aber je befremdlicher, desto lehr¬ reicher. Deshalb haben wir uns der Mühe unterzogen, eine Keine Blüteulese ans französischen Schulbüchern der jüngsten Zeit zu sammeln und sie den deutschen Leser» in einem Augenblicke vorzulegen, wo hie und da eiuer glauben >"acheu möchte, die Franzose» dächte» im Ernst a» keinen Rachekrieg. Greuzdvtc» II 189Z -l!)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/394>, abgerufen am 03.07.2024.