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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Herr Liebknecht in Frankreich.

Unter den sozialdemokratischen Führern,
die iwch um beharrlichsten teils ans alter Neigung, teils aus parteitnktischen, agi¬
tatorischen Rücksichten daran festhalten, ihre sachlich im allgemeinen ganz ruhigen
und keineswegs vaterlandsfeindlichen Gedanken mit einem Schwall revolutionärer
und internationaler Phrasen zu verbrämen, steht Herr Liebknecht in erster Reihe.
Kein Wunder, wenn die Philister und ihre Presse, die schon die bloßen Worte
"Revolution" und "Jnterncitioncilität" in eine solche sittliche Entrüstung versetzen,
daß sie gnr nicht darüber wegzukommen und auf den Inhalt gar nicht weiter einzu¬
gehen vermögen, in ihm nichts weiteres sehen als den bluttriefenden, roten Re¬
volutionär!

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Art der Beurteilung der
Sozialdemokratie, die an der nußern Form ihrer Anschauungen haften bleibt, ohne
auf den allerdings häufig recht versteckten Inhalt einzugehen, aufs entschiedenste zu
bekämpfen, denn wir sind der Überzeugung, daß nichts so gefährlich sei, nichts eine
gedeihliche und fruchtbare Auseinandersetzung so erschwere, wie diese äußerliche Be¬
trachtungsweise, die zum Kern der Sache gar nicht vordringt, sondern nur Phrasen
mit Gegenphrasen bekämpft. Der Sozialdemokratie ihr revolutionäres Kleid, aus
dem sie nach ihrer ganzen Entwicklung noch nicht recht Herauskommen kann und
mag, vom Leibe zu reißen und zu zeigen, wie sich ihre Gedanken schon jetzt in
einer Richtung bewegen, die von der Richtung unsrer Gedanken nicht sonderlich
abweicht, das scheint uns besser und fruchtbarer, als ausschließlich mit einem großen
Aufwand von Entrüstung die äußere Hülle jeuer Gedanken zu bekämpfen, die in
demselben Maße für die Sozialdemokratie selbst an Bedeutung abnehmen wird, wie
wir uns daran gewöhnen, sie nicht ernst zu nehmen.

Wenn man von diesem Standpunkte aus das jüngste Auftreten des Herrn
Liebknecht in Frankreich und namentlich in Marseille betrachtet, wenn man sich erst
durch den Wust für den Geschmack französischer Gemüter noch ganz besonders zu¬
rechtgestutzter revolutionärer und namentlich internationaler Redensarten durch¬
gewunden hat und bis zum Kern dessen vorgedrungen ist, ums er über die Stel¬
lung der deutscheu Sozialdemokratie zu ihrem deutschen Vaterlnnde und zur Frage
der Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich gesagt hat, so hat man keine be¬
sondre Ursache, Herrn Liebknecht für das, was er su xloins?rkmvv zu sagen ge¬
wagt hat, zu zürnen. Im Gegenteil, man kann sagen, daß er sich um sein Bater¬
land -- so dürfen wir es ja wohl nennen, da er selbst sagt, er sei doch schließlich
"ein klein wenig" Deutscher -- wohl verdient gemacht habe. Wenn man nämlich
alle die revolutionären und internationalen, im übrigen aber zu nichts ver¬
pflichtenden Bruderküsse abzieht, die Herr Liebknecht über den breiten Strom des
zwischen Deutschland und Frankreich liegenden, nicht durch die Sozialdemokratie
beider Länder verschuldeten Blutes den französische" Sozialdemokraten verabreicht
hat, so bleibt für die Franzosen, die etwa noch gehofft haben sollten, die Sozial¬
demokratie im Falle eines Krieges gegen Deutschland an ihrer Seite zu finden,
nichts als eine Absage übrig, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Das mit Rußland geschlossene Bündnis hat Herr Liebknecht mit der größten
Schärfe gegeißelt und keinen Zweifel darüber gelassen, daß, wenn Rußland und


Grenzboten IV 1892 1"
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Herr Liebknecht in Frankreich.

Unter den sozialdemokratischen Führern,
die iwch um beharrlichsten teils ans alter Neigung, teils aus parteitnktischen, agi¬
tatorischen Rücksichten daran festhalten, ihre sachlich im allgemeinen ganz ruhigen
und keineswegs vaterlandsfeindlichen Gedanken mit einem Schwall revolutionärer
und internationaler Phrasen zu verbrämen, steht Herr Liebknecht in erster Reihe.
Kein Wunder, wenn die Philister und ihre Presse, die schon die bloßen Worte
„Revolution" und „Jnterncitioncilität" in eine solche sittliche Entrüstung versetzen,
daß sie gnr nicht darüber wegzukommen und auf den Inhalt gar nicht weiter einzu¬
gehen vermögen, in ihm nichts weiteres sehen als den bluttriefenden, roten Re¬
volutionär!

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Art der Beurteilung der
Sozialdemokratie, die an der nußern Form ihrer Anschauungen haften bleibt, ohne
auf den allerdings häufig recht versteckten Inhalt einzugehen, aufs entschiedenste zu
bekämpfen, denn wir sind der Überzeugung, daß nichts so gefährlich sei, nichts eine
gedeihliche und fruchtbare Auseinandersetzung so erschwere, wie diese äußerliche Be¬
trachtungsweise, die zum Kern der Sache gar nicht vordringt, sondern nur Phrasen
mit Gegenphrasen bekämpft. Der Sozialdemokratie ihr revolutionäres Kleid, aus
dem sie nach ihrer ganzen Entwicklung noch nicht recht Herauskommen kann und
mag, vom Leibe zu reißen und zu zeigen, wie sich ihre Gedanken schon jetzt in
einer Richtung bewegen, die von der Richtung unsrer Gedanken nicht sonderlich
abweicht, das scheint uns besser und fruchtbarer, als ausschließlich mit einem großen
Aufwand von Entrüstung die äußere Hülle jeuer Gedanken zu bekämpfen, die in
demselben Maße für die Sozialdemokratie selbst an Bedeutung abnehmen wird, wie
wir uns daran gewöhnen, sie nicht ernst zu nehmen.

Wenn man von diesem Standpunkte aus das jüngste Auftreten des Herrn
Liebknecht in Frankreich und namentlich in Marseille betrachtet, wenn man sich erst
durch den Wust für den Geschmack französischer Gemüter noch ganz besonders zu¬
rechtgestutzter revolutionärer und namentlich internationaler Redensarten durch¬
gewunden hat und bis zum Kern dessen vorgedrungen ist, ums er über die Stel¬
lung der deutscheu Sozialdemokratie zu ihrem deutschen Vaterlnnde und zur Frage
der Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich gesagt hat, so hat man keine be¬
sondre Ursache, Herrn Liebknecht für das, was er su xloins?rkmvv zu sagen ge¬
wagt hat, zu zürnen. Im Gegenteil, man kann sagen, daß er sich um sein Bater¬
land — so dürfen wir es ja wohl nennen, da er selbst sagt, er sei doch schließlich
„ein klein wenig" Deutscher — wohl verdient gemacht habe. Wenn man nämlich
alle die revolutionären und internationalen, im übrigen aber zu nichts ver¬
pflichtenden Bruderküsse abzieht, die Herr Liebknecht über den breiten Strom des
zwischen Deutschland und Frankreich liegenden, nicht durch die Sozialdemokratie
beider Länder verschuldeten Blutes den französische» Sozialdemokraten verabreicht
hat, so bleibt für die Franzosen, die etwa noch gehofft haben sollten, die Sozial¬
demokratie im Falle eines Krieges gegen Deutschland an ihrer Seite zu finden,
nichts als eine Absage übrig, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Das mit Rußland geschlossene Bündnis hat Herr Liebknecht mit der größten
Schärfe gegeißelt und keinen Zweifel darüber gelassen, daß, wenn Rußland und


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[0145] Maßgebliches und Unmaßgebliches Herr Liebknecht in Frankreich. Unter den sozialdemokratischen Führern, die iwch um beharrlichsten teils ans alter Neigung, teils aus parteitnktischen, agi¬ tatorischen Rücksichten daran festhalten, ihre sachlich im allgemeinen ganz ruhigen und keineswegs vaterlandsfeindlichen Gedanken mit einem Schwall revolutionärer und internationaler Phrasen zu verbrämen, steht Herr Liebknecht in erster Reihe. Kein Wunder, wenn die Philister und ihre Presse, die schon die bloßen Worte „Revolution" und „Jnterncitioncilität" in eine solche sittliche Entrüstung versetzen, daß sie gnr nicht darüber wegzukommen und auf den Inhalt gar nicht weiter einzu¬ gehen vermögen, in ihm nichts weiteres sehen als den bluttriefenden, roten Re¬ volutionär! Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Art der Beurteilung der Sozialdemokratie, die an der nußern Form ihrer Anschauungen haften bleibt, ohne auf den allerdings häufig recht versteckten Inhalt einzugehen, aufs entschiedenste zu bekämpfen, denn wir sind der Überzeugung, daß nichts so gefährlich sei, nichts eine gedeihliche und fruchtbare Auseinandersetzung so erschwere, wie diese äußerliche Be¬ trachtungsweise, die zum Kern der Sache gar nicht vordringt, sondern nur Phrasen mit Gegenphrasen bekämpft. Der Sozialdemokratie ihr revolutionäres Kleid, aus dem sie nach ihrer ganzen Entwicklung noch nicht recht Herauskommen kann und mag, vom Leibe zu reißen und zu zeigen, wie sich ihre Gedanken schon jetzt in einer Richtung bewegen, die von der Richtung unsrer Gedanken nicht sonderlich abweicht, das scheint uns besser und fruchtbarer, als ausschließlich mit einem großen Aufwand von Entrüstung die äußere Hülle jeuer Gedanken zu bekämpfen, die in demselben Maße für die Sozialdemokratie selbst an Bedeutung abnehmen wird, wie wir uns daran gewöhnen, sie nicht ernst zu nehmen. Wenn man von diesem Standpunkte aus das jüngste Auftreten des Herrn Liebknecht in Frankreich und namentlich in Marseille betrachtet, wenn man sich erst durch den Wust für den Geschmack französischer Gemüter noch ganz besonders zu¬ rechtgestutzter revolutionärer und namentlich internationaler Redensarten durch¬ gewunden hat und bis zum Kern dessen vorgedrungen ist, ums er über die Stel¬ lung der deutscheu Sozialdemokratie zu ihrem deutschen Vaterlnnde und zur Frage der Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich gesagt hat, so hat man keine be¬ sondre Ursache, Herrn Liebknecht für das, was er su xloins?rkmvv zu sagen ge¬ wagt hat, zu zürnen. Im Gegenteil, man kann sagen, daß er sich um sein Bater¬ land — so dürfen wir es ja wohl nennen, da er selbst sagt, er sei doch schließlich „ein klein wenig" Deutscher — wohl verdient gemacht habe. Wenn man nämlich alle die revolutionären und internationalen, im übrigen aber zu nichts ver¬ pflichtenden Bruderküsse abzieht, die Herr Liebknecht über den breiten Strom des zwischen Deutschland und Frankreich liegenden, nicht durch die Sozialdemokratie beider Länder verschuldeten Blutes den französische» Sozialdemokraten verabreicht hat, so bleibt für die Franzosen, die etwa noch gehofft haben sollten, die Sozial¬ demokratie im Falle eines Krieges gegen Deutschland an ihrer Seite zu finden, nichts als eine Absage übrig, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Das mit Rußland geschlossene Bündnis hat Herr Liebknecht mit der größten Schärfe gegeißelt und keinen Zweifel darüber gelassen, daß, wenn Rußland und Grenzboten IV 1892 1»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/145>, abgerufen am 22.12.2024.