Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches möglich, den kleinen Vagabunden zu essen, dessen Gezwitscher ihn getröstet hat, Anspruchlos. In der Anzeige von Robert Schumanns Gesammelten Schriften Das Wort anspruchlos erscheint als ziemlich junge Bildung und wird nebst Grenzboten III 18S2 .,8
Maßgebliches und Unmaßgebliches möglich, den kleinen Vagabunden zu essen, dessen Gezwitscher ihn getröstet hat, Anspruchlos. In der Anzeige von Robert Schumanns Gesammelten Schriften Das Wort anspruchlos erscheint als ziemlich junge Bildung und wird nebst Grenzboten III 18S2 .,8
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212861"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1299" prev="#ID_1298"> möglich, den kleinen Vagabunden zu essen, dessen Gezwitscher ihn getröstet hat,<lb/> wenn nach einer durchwachten Nacht endlich der Morgen kommt, den einzigen Boten<lb/> einer weit vor den Thoren draußen blühenden Natur?</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Anspruchlos. </head> <p xml:id="ID_1300"> In der Anzeige von Robert Schumanns Gesammelten Schriften<lb/> (Grenzboten vom 28. Juli 1392, S. 229) wird gewiß mit Recht behauptet, daß<lb/> Schumann in seiner Sprache nicht vor Provinzialismen zurückschrecke, serner aber,<lb/> daß er in der Schreibung anspruchlos, Hochzeittag (statt anspruchslos,<lb/> Hochzeitstag) dem Vorbilde Jean Paris gefolgt sei. ' Es bleibe dahingestellt,<lb/> ob viele Leser der Schumannschen Schriften gerade auf diese Bnchstabensachen be¬<lb/> sonders achten; aber heute sind ja Bemerkungen über Einzelheiten und Kleinigkeiten<lb/> des Sprachgebrauchs auch in sonst allgemein gehaltnen Bücheranzeigen wieder mehr<lb/> üblich als vor Jahrzehnten, und welcher Vernünftige wollte solche Sorgfalt im<lb/> kleinen tadeln? Aber bei Bemerkungen der Art geht mancher zu einseitig vom<lb/> gegenwärtigen Sprachgebrauch aus und wagt Behauptungen, die schon vor leicht<lb/> nachweisbaren Thatsache» der Sprach- und Wortgeschichte eines einzigen Jahr¬<lb/> hunderts zerfallen. So ist dem Verfasser der genannten Anzeige die Schreibung<lb/> anspruchlos und Hochzeittag aufgefallen, und da er sich wohl der bei mancher<lb/> guten Beobachtung doch im Grunde wissenschaftlich wenig bedeutenden Schrift Jean<lb/> Paris: Über die deutschen Doppelwörter erinnerte, glaubte er in der bezeichneten<lb/> Schreibung einen Anschluß an Jean Pauls Weise zu sehn. An solche Nachahmung<lb/> in diesem besondern Falle zu denken, ist jedoch ganz überflüssig, da die Schreibung<lb/> und Aussprache anspruchslos sich erst allmählich im neunzehnten Jahrhundert durch¬<lb/> gesetzt hat, während hingegen nicht bloß Jean Paul, sondern auch fast alle seiue gleich<lb/> >hin oder noch mehr als er berühmten Zeitgenossen anspruchlos, Anspruch-<lb/> losigkeit schrieben, nicht aber anspruchslos, Anspruchslosigkeit. Vielleicht<lb/> ist es dienlich, an dem Worte ansprnch(s)los die Unsicherheit des heutigen<lb/> Sprachgefühls zu zeigen, nachdem einmal die Aufmerksamkeit der Grenzbotenleser<lb/> auf Schumanns anspruchlos gelenkt worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1301" next="#ID_1302"> Das Wort anspruchlos erscheint als ziemlich junge Bildung und wird nebst<lb/> Anspruchlosigkeit in den Wörterbüchern erst seit Adelung (1774) verzeichnet,<lb/> IN in gleichzeitigen und etwas spätern ziemlich ausführlichen Werken wie in Schwans<lb/> Vivtiomuürs MollumÄ-Klmyois (1783) oder in Moerbeeks deutsch-holländischem<lb/> Wörterbuch (1786) völlig übergangen. Campe (1807) führt nur anspruchlos<lb/> "uf. ebenso Heinsius (1818) und Heyse (1833). ohne die Formen anspruchslos<lb/> oder Anspruchslosigkeit auch nur zu erwähnen. Nur Cadet in der Berliner<lb/> Ausgabe des viotiaiumirs as 1'^WÄinnic; giebt schon im Beginn unsers Jahr¬<lb/> hunderts (1801) unter xrütsntiou anspruchsvoll und anspruchslos. Jakob<lb/> Grimm im Wörterbuch 1, 472 (1854) führt als Stichwort in Reih und Glied<lb/> nur anspruchlos und Anspruchlosigkeit auf, ebenso anspruchvoll, bemerkt<lb/> "ber, anscheinend als besondre Abweichung, daß Götter (gestorben 1797) an einer<lb/> Stelle anspruchslos biete. Also auch Grimm erachtet noch im Anfange der<lb/> fünfziger Jahre die Form anspruchlos für die übliche. Nicht anders verhält<lb/> sich Sanders, indem er in seinem großen Wörterbuche 2, 161^ (1363) noch nn-<lb/> spruchlos ansetzt, doch 3, 1433o (1866) neben anspruchvoll auch anspruchs¬<lb/> voll durch zwei Stellen Wielands belegt. Schon gegenüber diesen Angaben der<lb/> Wörterbücher wird man Bedenken tragen, die von Schumann gebrauchte Form<lb/> "nspruchlos auf eine Nachahmung Jean Pauls zurückzuführen. Die Schriftsteller<lb/> "um selbst stimmen mit den Anführungen der Wörterbücher ganz iiberein. Ich</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 18S2 .,8</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0385]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
möglich, den kleinen Vagabunden zu essen, dessen Gezwitscher ihn getröstet hat,
wenn nach einer durchwachten Nacht endlich der Morgen kommt, den einzigen Boten
einer weit vor den Thoren draußen blühenden Natur?
Anspruchlos. In der Anzeige von Robert Schumanns Gesammelten Schriften
(Grenzboten vom 28. Juli 1392, S. 229) wird gewiß mit Recht behauptet, daß
Schumann in seiner Sprache nicht vor Provinzialismen zurückschrecke, serner aber,
daß er in der Schreibung anspruchlos, Hochzeittag (statt anspruchslos,
Hochzeitstag) dem Vorbilde Jean Paris gefolgt sei. ' Es bleibe dahingestellt,
ob viele Leser der Schumannschen Schriften gerade auf diese Bnchstabensachen be¬
sonders achten; aber heute sind ja Bemerkungen über Einzelheiten und Kleinigkeiten
des Sprachgebrauchs auch in sonst allgemein gehaltnen Bücheranzeigen wieder mehr
üblich als vor Jahrzehnten, und welcher Vernünftige wollte solche Sorgfalt im
kleinen tadeln? Aber bei Bemerkungen der Art geht mancher zu einseitig vom
gegenwärtigen Sprachgebrauch aus und wagt Behauptungen, die schon vor leicht
nachweisbaren Thatsache» der Sprach- und Wortgeschichte eines einzigen Jahr¬
hunderts zerfallen. So ist dem Verfasser der genannten Anzeige die Schreibung
anspruchlos und Hochzeittag aufgefallen, und da er sich wohl der bei mancher
guten Beobachtung doch im Grunde wissenschaftlich wenig bedeutenden Schrift Jean
Paris: Über die deutschen Doppelwörter erinnerte, glaubte er in der bezeichneten
Schreibung einen Anschluß an Jean Pauls Weise zu sehn. An solche Nachahmung
in diesem besondern Falle zu denken, ist jedoch ganz überflüssig, da die Schreibung
und Aussprache anspruchslos sich erst allmählich im neunzehnten Jahrhundert durch¬
gesetzt hat, während hingegen nicht bloß Jean Paul, sondern auch fast alle seiue gleich
>hin oder noch mehr als er berühmten Zeitgenossen anspruchlos, Anspruch-
losigkeit schrieben, nicht aber anspruchslos, Anspruchslosigkeit. Vielleicht
ist es dienlich, an dem Worte ansprnch(s)los die Unsicherheit des heutigen
Sprachgefühls zu zeigen, nachdem einmal die Aufmerksamkeit der Grenzbotenleser
auf Schumanns anspruchlos gelenkt worden ist.
Das Wort anspruchlos erscheint als ziemlich junge Bildung und wird nebst
Anspruchlosigkeit in den Wörterbüchern erst seit Adelung (1774) verzeichnet,
IN in gleichzeitigen und etwas spätern ziemlich ausführlichen Werken wie in Schwans
Vivtiomuürs MollumÄ-Klmyois (1783) oder in Moerbeeks deutsch-holländischem
Wörterbuch (1786) völlig übergangen. Campe (1807) führt nur anspruchlos
"uf. ebenso Heinsius (1818) und Heyse (1833). ohne die Formen anspruchslos
oder Anspruchslosigkeit auch nur zu erwähnen. Nur Cadet in der Berliner
Ausgabe des viotiaiumirs as 1'^WÄinnic; giebt schon im Beginn unsers Jahr¬
hunderts (1801) unter xrütsntiou anspruchsvoll und anspruchslos. Jakob
Grimm im Wörterbuch 1, 472 (1854) führt als Stichwort in Reih und Glied
nur anspruchlos und Anspruchlosigkeit auf, ebenso anspruchvoll, bemerkt
"ber, anscheinend als besondre Abweichung, daß Götter (gestorben 1797) an einer
Stelle anspruchslos biete. Also auch Grimm erachtet noch im Anfange der
fünfziger Jahre die Form anspruchlos für die übliche. Nicht anders verhält
sich Sanders, indem er in seinem großen Wörterbuche 2, 161^ (1363) noch nn-
spruchlos ansetzt, doch 3, 1433o (1866) neben anspruchvoll auch anspruchs¬
voll durch zwei Stellen Wielands belegt. Schon gegenüber diesen Angaben der
Wörterbücher wird man Bedenken tragen, die von Schumann gebrauchte Form
"nspruchlos auf eine Nachahmung Jean Pauls zurückzuführen. Die Schriftsteller
"um selbst stimmen mit den Anführungen der Wörterbücher ganz iiberein. Ich
Grenzboten III 18S2 .,8
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