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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

er Patient muß recht krank sein. Ärzte und alte Weiber drängen
sich heran, und jedes hat sein Spezifikum. Ich meine unser
Volk. Als neuester Arzt kommt unserm kranken Volke der neunte
deutsche Lehrertag zu Hilfe, der zu Pfingsten in Halle tagte.
Auf diesem Lehrertngc hat Herr Schulinspektor Scherer aus
Worms einen Vortrag über die allgemeine Volksschule mit Rücksicht auf die
soziale Frage gehalten, der allseitige Zustimmung fand und ein so gehobnes
Bewußtsein erzeugte, daß man unter Hinweisung auf die eben vollendete That
Begrüßungsworte an den Kultusminister telegraphirte. In der That hat der
Vortragende auch nur ausgesprochen, was in der Lehrerwelt neuerdings in
zahllosen Versammlungen und Aufsätzen erörtert worden ist. Um so mehr
muß es Wunder nehmen, daß man in allem Ernste zu glauben scheint, mit
Gedanken und Mitteln an die soziale Frage hinankommen zu können, die sich
als Redensarten und folglich als gänzlich ohnmächtig erweisen.'

Der Vortragende begann mit einer geschichtlichen Erörterung.") Er wies
auf Comenius zurück, der ausdrücklich fordert, daß die Kiuder einer Gemeinde
vom sechsten bis zwölften Jahre, zusammen die Muttersprachschule besuchen
sollen, damit sie sich zu allen Tugenden, besonders der Bescheidenheit, gegen¬
seitig anregen. Erst dann mögen die Gymnasialstudien folgen. Ebenso for¬
dert Pestalozzi erziehenden Unterricht für alle ohne Rücksicht auf Stand und
Konfession. Nach dem preußischen Schulgesetzentwurfe von 1819 gliedert
sich die Schule in die allgemeine Volksschule, die allgemeine Stadtschule
und das Gymnasium; diese drei sino als eine einzige Natioualschule zu be-



*) Wir folgen hier dem Berichte der Sa-ilzettung.
Grenzovteu III 1892i:;


Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

er Patient muß recht krank sein. Ärzte und alte Weiber drängen
sich heran, und jedes hat sein Spezifikum. Ich meine unser
Volk. Als neuester Arzt kommt unserm kranken Volke der neunte
deutsche Lehrertag zu Hilfe, der zu Pfingsten in Halle tagte.
Auf diesem Lehrertngc hat Herr Schulinspektor Scherer aus
Worms einen Vortrag über die allgemeine Volksschule mit Rücksicht auf die
soziale Frage gehalten, der allseitige Zustimmung fand und ein so gehobnes
Bewußtsein erzeugte, daß man unter Hinweisung auf die eben vollendete That
Begrüßungsworte an den Kultusminister telegraphirte. In der That hat der
Vortragende auch nur ausgesprochen, was in der Lehrerwelt neuerdings in
zahllosen Versammlungen und Aufsätzen erörtert worden ist. Um so mehr
muß es Wunder nehmen, daß man in allem Ernste zu glauben scheint, mit
Gedanken und Mitteln an die soziale Frage hinankommen zu können, die sich
als Redensarten und folglich als gänzlich ohnmächtig erweisen.'

Der Vortragende begann mit einer geschichtlichen Erörterung.") Er wies
auf Comenius zurück, der ausdrücklich fordert, daß die Kiuder einer Gemeinde
vom sechsten bis zwölften Jahre, zusammen die Muttersprachschule besuchen
sollen, damit sie sich zu allen Tugenden, besonders der Bescheidenheit, gegen¬
seitig anregen. Erst dann mögen die Gymnasialstudien folgen. Ebenso for¬
dert Pestalozzi erziehenden Unterricht für alle ohne Rücksicht auf Stand und
Konfession. Nach dem preußischen Schulgesetzentwurfe von 1819 gliedert
sich die Schule in die allgemeine Volksschule, die allgemeine Stadtschule
und das Gymnasium; diese drei sino als eine einzige Natioualschule zu be-



*) Wir folgen hier dem Berichte der Sa-ilzettung.
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[0105] [Abbildung] Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage er Patient muß recht krank sein. Ärzte und alte Weiber drängen sich heran, und jedes hat sein Spezifikum. Ich meine unser Volk. Als neuester Arzt kommt unserm kranken Volke der neunte deutsche Lehrertag zu Hilfe, der zu Pfingsten in Halle tagte. Auf diesem Lehrertngc hat Herr Schulinspektor Scherer aus Worms einen Vortrag über die allgemeine Volksschule mit Rücksicht auf die soziale Frage gehalten, der allseitige Zustimmung fand und ein so gehobnes Bewußtsein erzeugte, daß man unter Hinweisung auf die eben vollendete That Begrüßungsworte an den Kultusminister telegraphirte. In der That hat der Vortragende auch nur ausgesprochen, was in der Lehrerwelt neuerdings in zahllosen Versammlungen und Aufsätzen erörtert worden ist. Um so mehr muß es Wunder nehmen, daß man in allem Ernste zu glauben scheint, mit Gedanken und Mitteln an die soziale Frage hinankommen zu können, die sich als Redensarten und folglich als gänzlich ohnmächtig erweisen.' Der Vortragende begann mit einer geschichtlichen Erörterung.") Er wies auf Comenius zurück, der ausdrücklich fordert, daß die Kiuder einer Gemeinde vom sechsten bis zwölften Jahre, zusammen die Muttersprachschule besuchen sollen, damit sie sich zu allen Tugenden, besonders der Bescheidenheit, gegen¬ seitig anregen. Erst dann mögen die Gymnasialstudien folgen. Ebenso for¬ dert Pestalozzi erziehenden Unterricht für alle ohne Rücksicht auf Stand und Konfession. Nach dem preußischen Schulgesetzentwurfe von 1819 gliedert sich die Schule in die allgemeine Volksschule, die allgemeine Stadtschule und das Gymnasium; diese drei sino als eine einzige Natioualschule zu be- *) Wir folgen hier dem Berichte der Sa-ilzettung. Grenzovteu III 1892i:;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/105>, abgerufen am 05.01.2025.