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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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I^t^iÄ rediviva,

ahrhaftig, sie hat ein unvergängliches Leben! Vor zwei Jahr¬
tausenden war sie die Priesterin der unnahbaren Gottheit, die sich
an alleu Staatsaktionen beteiligte und griechische und römische
Geschichte machte; in unserm neunzehnten Jahrhundert ist sie zuvor¬
kommender geworden und steigt weissagend in die Niederungen
des persönlichen Kleinlebens herab. Am Ende ist der Satz, daß die Menschheit
im Laufe der Geschichte das, was sie angebetet hat, verbrenne, daß die Wissen¬
schaft jeden Morgen die Irrtümer des vergangnen Tages verwerfe, und daß
die Wahrheit eine chronologische Frage sei, doch nicht wahr.

Wenn es noch Orakel gäbe, ob wir sie nicht befragen würden? Der Reiz,
den sie auf ihre Zeit ausgeübt haben, muß doch mächtig gewesen sein. Eine
hochgebildete Kulturwelt stand in ihrem Banne; denn sie gaben dem Verstände
der Menschen und der Ungewißheit der Völker, wenn sie an den Kreuzwege,?
des Lebens und der Geschichte verblüfft still standen, die neue Richtungslinie.
Wenn also die Griechen, die, wie Lasaulx bemerkt, als die Vertreter einer
geistig freien Lebcnsentwicklung in der Geschichte dastehen, wie kein andres
Volk, von dem Glauben, daß das Zukünftige vorausgewußt werden könne,
erfüllt waren und demgemäß von der weitverzweigten mantischen Kunst den
ausgiebigsten Gebrauch machten, so werden wir uns, obgleich Mantik mit
^"t>e<7^"/, (rasen) Wurzeleins ist, der einen oder andern Frage um die Zukunft
auch nicht zu schämen brauchen. Es scheint denn auch thatsächlich der Reiz,
den alles Geheimnisvolle auf deu suchenden Geist ausübt, nachwirkend in
unserm Geschlechte fortzudauern. Denn die wissenschaftliche - die kultur¬
geschichtliche und die philologische -- Forschung beginnt wirklich, sich der
lange Zeit vernachlässigten Stiefkinder der griechischen Muse, der häufiger
gescholtenen als gelesenen Mantiker und Sibyllisten wieder anzunehmen und
sie aus dem kalten Schatten ihrer Vernachlässigung zu ziehen.

Aber freilich, die treibenden Kräfte dieser Wiederbelebung sind himmel¬
weit von den alten verschieden. Dem Griechen war es ein Bedürfnis, in dem
Jrrsal des Lebens, in den Fragen des Gewissens und den Rätseln der Volks¬
geschichte den sichern Weg in göttlicher Belehrung zu suchen. Die delphische
Pythia ist ihm eine ernste Figur, eine'religiöse und sittliche Macht und ein


Grenzboten III 1891 76


I^t^iÄ rediviva,

ahrhaftig, sie hat ein unvergängliches Leben! Vor zwei Jahr¬
tausenden war sie die Priesterin der unnahbaren Gottheit, die sich
an alleu Staatsaktionen beteiligte und griechische und römische
Geschichte machte; in unserm neunzehnten Jahrhundert ist sie zuvor¬
kommender geworden und steigt weissagend in die Niederungen
des persönlichen Kleinlebens herab. Am Ende ist der Satz, daß die Menschheit
im Laufe der Geschichte das, was sie angebetet hat, verbrenne, daß die Wissen¬
schaft jeden Morgen die Irrtümer des vergangnen Tages verwerfe, und daß
die Wahrheit eine chronologische Frage sei, doch nicht wahr.

Wenn es noch Orakel gäbe, ob wir sie nicht befragen würden? Der Reiz,
den sie auf ihre Zeit ausgeübt haben, muß doch mächtig gewesen sein. Eine
hochgebildete Kulturwelt stand in ihrem Banne; denn sie gaben dem Verstände
der Menschen und der Ungewißheit der Völker, wenn sie an den Kreuzwege,?
des Lebens und der Geschichte verblüfft still standen, die neue Richtungslinie.
Wenn also die Griechen, die, wie Lasaulx bemerkt, als die Vertreter einer
geistig freien Lebcnsentwicklung in der Geschichte dastehen, wie kein andres
Volk, von dem Glauben, daß das Zukünftige vorausgewußt werden könne,
erfüllt waren und demgemäß von der weitverzweigten mantischen Kunst den
ausgiebigsten Gebrauch machten, so werden wir uns, obgleich Mantik mit
^«t>e<7^«/, (rasen) Wurzeleins ist, der einen oder andern Frage um die Zukunft
auch nicht zu schämen brauchen. Es scheint denn auch thatsächlich der Reiz,
den alles Geheimnisvolle auf deu suchenden Geist ausübt, nachwirkend in
unserm Geschlechte fortzudauern. Denn die wissenschaftliche - die kultur¬
geschichtliche und die philologische — Forschung beginnt wirklich, sich der
lange Zeit vernachlässigten Stiefkinder der griechischen Muse, der häufiger
gescholtenen als gelesenen Mantiker und Sibyllisten wieder anzunehmen und
sie aus dem kalten Schatten ihrer Vernachlässigung zu ziehen.

Aber freilich, die treibenden Kräfte dieser Wiederbelebung sind himmel¬
weit von den alten verschieden. Dem Griechen war es ein Bedürfnis, in dem
Jrrsal des Lebens, in den Fragen des Gewissens und den Rätseln der Volks¬
geschichte den sichern Weg in göttlicher Belehrung zu suchen. Die delphische
Pythia ist ihm eine ernste Figur, eine'religiöse und sittliche Macht und ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/609>, abgerufen am 13.11.2024.