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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

1883 bis 1891. Soziale Briefe aus Berlin mit besondrer Berücksichtigung der sozial-
demokratischen Strömungen von Otto von Leixner, Drittes Tausend. Preis 4 Mark-
Berlin V., Fr. Pfeilstücker, 1891

Otto von Leixner ist nicht allein in der Litteratur aller Völker und Zeiten,
sondern auch in seinem Berlin zu Hause, und wenn es auch, wie er in der Ein¬
leitung sagt, unmöglich ist, das vielgestaltige Leben einer Weltstadt der Gegenwart
vollständig zu schildern, so kommt doch seine Schilderung der Vollständigkeit so
nahe, als es bei dem mäßigen Umfange des Buches möglich ist. Auch wird ihm
jeder Leser das Zeugnis bestätigen, das er selbst seiner Unparteilichkeit ausstellt;
er hat in der That weder nach oben noch nach unten geschmeichelt und an keiner
Stelle "der Leidenschaft das Recht des Urteils zuerkannt, auch dort nicht, wo er,
Wie der Sozialdemokratie gegenüber, unbedingt Gegner ist." Von dieser sucht er
nachzuweisen, daß sie "heute uicht mehr allein aus wirtschaftlichen Gründen zu
erklären und zu verstehen sei, sondern aus psychologischen." Unter den wirtschaft¬
lichen Gründen versteht er doch wohl volkswirtschaftliche. Da ist es nnn bei der
Gründlichkeit und dem Ernst, mit dem er die sozialdemokratischen Erscheinungen
zergliedert (obwohl seine Briefe ursprünglich in einem Feuilleton, und zwar in
dem der Kölnischen Zeitung erschienen sind) einigermaßen auffällig, daß er auf die
volkswirtschaftliche Seite der Bewegung nirgends eingeht. Anlaß dazu hätte er
genug gehabt. Z. B. in den sehr schätzenswerten Kapiteln, die Muflerhaushal-
tuugsetats aus verschiednen Volksschichten enthalten. Aus thuen geht unter ander"
hervor, daß eine Beamtenfamilie mit 4500 Mark Gehalt und eine Familie des
höhern Arbeiterstandes mit 1700 Mark Einkommen sich noch satt essen können,
wenn sie mit eiserner Festigkeit allem Luxus und allen Vergnügungen, die Geld
kosten, entsagen, wenn die Frau eine ausgezeichnete Wirtin ist, wenn sie von keinem
Unglück heimgesucht werden, und wenn -- die Zahl der Kinder nicht über zwei
oder drei steigt. Würde jetzt im Reich anstatt des Finanzministeriums oder über
ihm ein Reichshaushaltsmiuisterium eingerichtet (bildet ja doch im Privnthaushalt
die Führung des Wirtschaftsbuches nur einen untergeordneten Teil der Wirtschafts-
sührung), so müßte es diese Thatsache zum Ausgangspunkte seiner Thätigkeit nehmen.
Wollten wir die Gedanken alle aufschreiben, zu denen uns das Buch angeregt hat,
so würde ein zweites Buch herauskommen; ein so anregendes Buch ist aber allemal
ein nützliches Buch. Selbstverständlich liest es sich auch sehr gut; aber wenn wir
seine Lektüre genußreich nennen wollten, würden wir ihm Unrecht thun; dazu ist
es zu ernst und an vielen Stellen zu traurig. Freilich fehlt es auch nicht an er¬
hebenden Lichtblickein Schilderungen eines gesunden Familienlebens, reizender
Idyllen, heldenmütiger Pflichterfüllung unter den schwierigsten Verhältnissen, hoff¬
nungsreicher Keime eines neuen Lebens.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

1883 bis 1891. Soziale Briefe aus Berlin mit besondrer Berücksichtigung der sozial-
demokratischen Strömungen von Otto von Leixner, Drittes Tausend. Preis 4 Mark-
Berlin V., Fr. Pfeilstücker, 1891

Otto von Leixner ist nicht allein in der Litteratur aller Völker und Zeiten,
sondern auch in seinem Berlin zu Hause, und wenn es auch, wie er in der Ein¬
leitung sagt, unmöglich ist, das vielgestaltige Leben einer Weltstadt der Gegenwart
vollständig zu schildern, so kommt doch seine Schilderung der Vollständigkeit so
nahe, als es bei dem mäßigen Umfange des Buches möglich ist. Auch wird ihm
jeder Leser das Zeugnis bestätigen, das er selbst seiner Unparteilichkeit ausstellt;
er hat in der That weder nach oben noch nach unten geschmeichelt und an keiner
Stelle „der Leidenschaft das Recht des Urteils zuerkannt, auch dort nicht, wo er,
Wie der Sozialdemokratie gegenüber, unbedingt Gegner ist." Von dieser sucht er
nachzuweisen, daß sie „heute uicht mehr allein aus wirtschaftlichen Gründen zu
erklären und zu verstehen sei, sondern aus psychologischen." Unter den wirtschaft¬
lichen Gründen versteht er doch wohl volkswirtschaftliche. Da ist es nnn bei der
Gründlichkeit und dem Ernst, mit dem er die sozialdemokratischen Erscheinungen
zergliedert (obwohl seine Briefe ursprünglich in einem Feuilleton, und zwar in
dem der Kölnischen Zeitung erschienen sind) einigermaßen auffällig, daß er auf die
volkswirtschaftliche Seite der Bewegung nirgends eingeht. Anlaß dazu hätte er
genug gehabt. Z. B. in den sehr schätzenswerten Kapiteln, die Muflerhaushal-
tuugsetats aus verschiednen Volksschichten enthalten. Aus thuen geht unter ander«
hervor, daß eine Beamtenfamilie mit 4500 Mark Gehalt und eine Familie des
höhern Arbeiterstandes mit 1700 Mark Einkommen sich noch satt essen können,
wenn sie mit eiserner Festigkeit allem Luxus und allen Vergnügungen, die Geld
kosten, entsagen, wenn die Frau eine ausgezeichnete Wirtin ist, wenn sie von keinem
Unglück heimgesucht werden, und wenn — die Zahl der Kinder nicht über zwei
oder drei steigt. Würde jetzt im Reich anstatt des Finanzministeriums oder über
ihm ein Reichshaushaltsmiuisterium eingerichtet (bildet ja doch im Privnthaushalt
die Führung des Wirtschaftsbuches nur einen untergeordneten Teil der Wirtschafts-
sührung), so müßte es diese Thatsache zum Ausgangspunkte seiner Thätigkeit nehmen.
Wollten wir die Gedanken alle aufschreiben, zu denen uns das Buch angeregt hat,
so würde ein zweites Buch herauskommen; ein so anregendes Buch ist aber allemal
ein nützliches Buch. Selbstverständlich liest es sich auch sehr gut; aber wenn wir
seine Lektüre genußreich nennen wollten, würden wir ihm Unrecht thun; dazu ist
es zu ernst und an vielen Stellen zu traurig. Freilich fehlt es auch nicht an er¬
hebenden Lichtblickein Schilderungen eines gesunden Familienlebens, reizender
Idyllen, heldenmütiger Pflichterfüllung unter den schwierigsten Verhältnissen, hoff¬
nungsreicher Keime eines neuen Lebens.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0296] Litteratur 1883 bis 1891. Soziale Briefe aus Berlin mit besondrer Berücksichtigung der sozial- demokratischen Strömungen von Otto von Leixner, Drittes Tausend. Preis 4 Mark- Berlin V., Fr. Pfeilstücker, 1891 Otto von Leixner ist nicht allein in der Litteratur aller Völker und Zeiten, sondern auch in seinem Berlin zu Hause, und wenn es auch, wie er in der Ein¬ leitung sagt, unmöglich ist, das vielgestaltige Leben einer Weltstadt der Gegenwart vollständig zu schildern, so kommt doch seine Schilderung der Vollständigkeit so nahe, als es bei dem mäßigen Umfange des Buches möglich ist. Auch wird ihm jeder Leser das Zeugnis bestätigen, das er selbst seiner Unparteilichkeit ausstellt; er hat in der That weder nach oben noch nach unten geschmeichelt und an keiner Stelle „der Leidenschaft das Recht des Urteils zuerkannt, auch dort nicht, wo er, Wie der Sozialdemokratie gegenüber, unbedingt Gegner ist." Von dieser sucht er nachzuweisen, daß sie „heute uicht mehr allein aus wirtschaftlichen Gründen zu erklären und zu verstehen sei, sondern aus psychologischen." Unter den wirtschaft¬ lichen Gründen versteht er doch wohl volkswirtschaftliche. Da ist es nnn bei der Gründlichkeit und dem Ernst, mit dem er die sozialdemokratischen Erscheinungen zergliedert (obwohl seine Briefe ursprünglich in einem Feuilleton, und zwar in dem der Kölnischen Zeitung erschienen sind) einigermaßen auffällig, daß er auf die volkswirtschaftliche Seite der Bewegung nirgends eingeht. Anlaß dazu hätte er genug gehabt. Z. B. in den sehr schätzenswerten Kapiteln, die Muflerhaushal- tuugsetats aus verschiednen Volksschichten enthalten. Aus thuen geht unter ander« hervor, daß eine Beamtenfamilie mit 4500 Mark Gehalt und eine Familie des höhern Arbeiterstandes mit 1700 Mark Einkommen sich noch satt essen können, wenn sie mit eiserner Festigkeit allem Luxus und allen Vergnügungen, die Geld kosten, entsagen, wenn die Frau eine ausgezeichnete Wirtin ist, wenn sie von keinem Unglück heimgesucht werden, und wenn — die Zahl der Kinder nicht über zwei oder drei steigt. Würde jetzt im Reich anstatt des Finanzministeriums oder über ihm ein Reichshaushaltsmiuisterium eingerichtet (bildet ja doch im Privnthaushalt die Führung des Wirtschaftsbuches nur einen untergeordneten Teil der Wirtschafts- sührung), so müßte es diese Thatsache zum Ausgangspunkte seiner Thätigkeit nehmen. Wollten wir die Gedanken alle aufschreiben, zu denen uns das Buch angeregt hat, so würde ein zweites Buch herauskommen; ein so anregendes Buch ist aber allemal ein nützliches Buch. Selbstverständlich liest es sich auch sehr gut; aber wenn wir seine Lektüre genußreich nennen wollten, würden wir ihm Unrecht thun; dazu ist es zu ernst und an vielen Stellen zu traurig. Freilich fehlt es auch nicht an er¬ hebenden Lichtblickein Schilderungen eines gesunden Familienlebens, reizender Idyllen, heldenmütiger Pflichterfüllung unter den schwierigsten Verhältnissen, hoff¬ nungsreicher Keime eines neuen Lebens. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/296>, abgerufen am 13.11.2024.