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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Verwilderung ein allgemeines Zeichen der Zeit liegt. Nur auf solchen Grund¬
lagen läßt sich unser Fall erklären.

Auch über die Ursachen dieses Zustandes ist schon genug geschrieben
worden. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß unsre Jugend schon
zu viel weiß, daß sie durch das Lesen der Tagcsblütter, die ihnen zu wenig
vorenthalten werden, über Dinge und Vorkommnisse unterrichtet wird, die
ihnen uoch entrückt und verborgen bleiben sollten, daß auch der frühzeitige,
an keine Schranken gebundene Verkehr mit Erwachsenen sie vieles hören und
sehen läßt, was ihrem Auge und Ohr noch ebenso verborgen bleiben sollte.
Was die Schule in ihren vier Wänden Gutes stiftet, das verderben wieder
Haus und Straße. Am schlimmsten steht es immer in den Familien, wo
beide Eltern den Tag über auf Arbeit gehen und die Kinder in der schulfreien
Zeit sich selbst überlassen sind. Hier fehlt der sittliche Einfluß der Familie
so gut wie ganz, und das macht sich besonders fühlbar in dem Mangel an
Gemütsbildung, der sich in dem hier geschilderten Falle aufs schrecklichste
offenbart.

Wenn sich die Jugend zu solchen Thaten versteigt, so sind wir in der
That berechtigt zu der beklemmenden Frage: Wo soll das hinaus?




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Immunität.

Der Begriff der UnVerantwortlichkeit und Unverletzbarkeit der
Abgeordneten hat in verschiednen Ländern verschleime Ausdehnung. Daß ein Mit¬
glied eines Parlaments für das, was es in dieser Eigenschaft spricht, nicht gerichtlich
belangt werden kann, steht überall fest; während sich aber z. B. in Frankreich und
Ungarn kein Abgeordneter weigert, für persönliche Beleidigungen Genugthuung zu
geben (und in Ungarn solche Angelegenheiten ernster behandelt zu werden scheinen,
als in Frankreich, wo die Zweikämpfe meistens Spiegelfechterei bleiben), wehrt man
sich merkwürdigerweise in Deutschland, auf dessen Hochschulen, wie erst unlängst in
diesem Blatte geschildert wurde, das Duelliren förmlich gezüchtet wird, vielfach mit
Entschiedenheit gegen die Einführung jenes Gebrauches. Da bereitete denn die
telegraphische Nachricht große Befriedigung, daß in Budapest eine Versammlung
von Abgeordneten aller Parteien erklärt habe, ein Mitglied, das beleidigende
Äußerungen über ein in Fiume stehendes Regiment gethan hatte, brauche die Heraus¬
forderung eines vom Regiment dazu bestimmten Offiziers nicht anzunehmen. Eine
Wiener Zeitung rief in ihrer Herzensfreude aus: "Was sollte auch aus der Ab¬
geordnetenimmunität werden, wenn zwar kein Staatsanwalt und kein Gericht das


Verwilderung ein allgemeines Zeichen der Zeit liegt. Nur auf solchen Grund¬
lagen läßt sich unser Fall erklären.

Auch über die Ursachen dieses Zustandes ist schon genug geschrieben
worden. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß unsre Jugend schon
zu viel weiß, daß sie durch das Lesen der Tagcsblütter, die ihnen zu wenig
vorenthalten werden, über Dinge und Vorkommnisse unterrichtet wird, die
ihnen uoch entrückt und verborgen bleiben sollten, daß auch der frühzeitige,
an keine Schranken gebundene Verkehr mit Erwachsenen sie vieles hören und
sehen läßt, was ihrem Auge und Ohr noch ebenso verborgen bleiben sollte.
Was die Schule in ihren vier Wänden Gutes stiftet, das verderben wieder
Haus und Straße. Am schlimmsten steht es immer in den Familien, wo
beide Eltern den Tag über auf Arbeit gehen und die Kinder in der schulfreien
Zeit sich selbst überlassen sind. Hier fehlt der sittliche Einfluß der Familie
so gut wie ganz, und das macht sich besonders fühlbar in dem Mangel an
Gemütsbildung, der sich in dem hier geschilderten Falle aufs schrecklichste
offenbart.

Wenn sich die Jugend zu solchen Thaten versteigt, so sind wir in der
That berechtigt zu der beklemmenden Frage: Wo soll das hinaus?




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Immunität.

Der Begriff der UnVerantwortlichkeit und Unverletzbarkeit der
Abgeordneten hat in verschiednen Ländern verschleime Ausdehnung. Daß ein Mit¬
glied eines Parlaments für das, was es in dieser Eigenschaft spricht, nicht gerichtlich
belangt werden kann, steht überall fest; während sich aber z. B. in Frankreich und
Ungarn kein Abgeordneter weigert, für persönliche Beleidigungen Genugthuung zu
geben (und in Ungarn solche Angelegenheiten ernster behandelt zu werden scheinen,
als in Frankreich, wo die Zweikämpfe meistens Spiegelfechterei bleiben), wehrt man
sich merkwürdigerweise in Deutschland, auf dessen Hochschulen, wie erst unlängst in
diesem Blatte geschildert wurde, das Duelliren förmlich gezüchtet wird, vielfach mit
Entschiedenheit gegen die Einführung jenes Gebrauches. Da bereitete denn die
telegraphische Nachricht große Befriedigung, daß in Budapest eine Versammlung
von Abgeordneten aller Parteien erklärt habe, ein Mitglied, das beleidigende
Äußerungen über ein in Fiume stehendes Regiment gethan hatte, brauche die Heraus¬
forderung eines vom Regiment dazu bestimmten Offiziers nicht anzunehmen. Eine
Wiener Zeitung rief in ihrer Herzensfreude aus: „Was sollte auch aus der Ab¬
geordnetenimmunität werden, wenn zwar kein Staatsanwalt und kein Gericht das


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[0238] Verwilderung ein allgemeines Zeichen der Zeit liegt. Nur auf solchen Grund¬ lagen läßt sich unser Fall erklären. Auch über die Ursachen dieses Zustandes ist schon genug geschrieben worden. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß unsre Jugend schon zu viel weiß, daß sie durch das Lesen der Tagcsblütter, die ihnen zu wenig vorenthalten werden, über Dinge und Vorkommnisse unterrichtet wird, die ihnen uoch entrückt und verborgen bleiben sollten, daß auch der frühzeitige, an keine Schranken gebundene Verkehr mit Erwachsenen sie vieles hören und sehen läßt, was ihrem Auge und Ohr noch ebenso verborgen bleiben sollte. Was die Schule in ihren vier Wänden Gutes stiftet, das verderben wieder Haus und Straße. Am schlimmsten steht es immer in den Familien, wo beide Eltern den Tag über auf Arbeit gehen und die Kinder in der schulfreien Zeit sich selbst überlassen sind. Hier fehlt der sittliche Einfluß der Familie so gut wie ganz, und das macht sich besonders fühlbar in dem Mangel an Gemütsbildung, der sich in dem hier geschilderten Falle aufs schrecklichste offenbart. Wenn sich die Jugend zu solchen Thaten versteigt, so sind wir in der That berechtigt zu der beklemmenden Frage: Wo soll das hinaus? Maßgebliches und Unmaßgebliches Immunität. Der Begriff der UnVerantwortlichkeit und Unverletzbarkeit der Abgeordneten hat in verschiednen Ländern verschleime Ausdehnung. Daß ein Mit¬ glied eines Parlaments für das, was es in dieser Eigenschaft spricht, nicht gerichtlich belangt werden kann, steht überall fest; während sich aber z. B. in Frankreich und Ungarn kein Abgeordneter weigert, für persönliche Beleidigungen Genugthuung zu geben (und in Ungarn solche Angelegenheiten ernster behandelt zu werden scheinen, als in Frankreich, wo die Zweikämpfe meistens Spiegelfechterei bleiben), wehrt man sich merkwürdigerweise in Deutschland, auf dessen Hochschulen, wie erst unlängst in diesem Blatte geschildert wurde, das Duelliren förmlich gezüchtet wird, vielfach mit Entschiedenheit gegen die Einführung jenes Gebrauches. Da bereitete denn die telegraphische Nachricht große Befriedigung, daß in Budapest eine Versammlung von Abgeordneten aller Parteien erklärt habe, ein Mitglied, das beleidigende Äußerungen über ein in Fiume stehendes Regiment gethan hatte, brauche die Heraus¬ forderung eines vom Regiment dazu bestimmten Offiziers nicht anzunehmen. Eine Wiener Zeitung rief in ihrer Herzensfreude aus: „Was sollte auch aus der Ab¬ geordnetenimmunität werden, wenn zwar kein Staatsanwalt und kein Gericht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/238>, abgerufen am 13.11.2024.