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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die parlamentarische Lag<in Österreich

er von den liberalen deutschen Zeitungen Österreichs seit langem
angekündigte Umschwung in der Stellung der Regierung zu den
Parteien hat sich um wirklich vollzogen, allerdings in wesentlich
andrer Art, als von jenen geweissagt wurde. Weder ist der
Ministerpräsident Graf Tcmffe gestürzt worden, noch hat er sich
mit den Führern der Opposition umgeben; beide sind einander entgegen¬
gekommen und haben versprochen, sich zu vertragen, ruhen zu lassen, was sie
trennt, gemeinsam zu arbeiten. Politiker, die nu dem Glaubenssätze festhalten,
daß die Staatsgeschäfte nur dann gut besorgt werden können, wenn in der
Volksvertretung eine geschlossene Mehrheit besteht und ans ihrer Mitte ein
Ministerium gebildet wird, werden durch den neuen Zustand nicht befriedigt
sein. Aber dreißig Jahre praktischer Politik -- ein wahrer dreißigjähriger
Krieg -- scheinen endlich wenigstens die Deutsch-Österreicher zu der Einsicht
gebracht zu haben, daß das parlamentarische Regiment Englands uicht schablonen¬
mäßig auf ein Reich mit durchaus andern Verhältnissen übertragen werden
kann. Sage" wir: vorläufig nicht. Denn der Realpolitiker weiß ja, daß große
Ereignisse oder langsame, unmerkliche Wandlungen ganz neue Lagen schaffe"
tonnen, daß morgen ausführbar sein kann, was heute noch unmöglich scheint.
Genug, vor der Hand erklärt sich, soweit wir es zu übersehen vermögen, die
teutschgesinnte Presse einverstanden mit dein Satze, den sie bis vor kurzem
aufs heftigste bekämpfte, nämlich daß sich eine große Partei nichts dadurch
vergebe, wenn sie eine Regierung unterstützt, in der sie uicht vertreten ist,
daß es für sie noch etwas andres geben könne, als entweder Negierimgspartei
oder Opposition zu sein. Das ist ein Gewinn, nicht allein für Österreich.
Wir sind keine Bewunderer der bisherigen Opposition im Neichsrate, stehen


Grenzboten III 1891 16


Die parlamentarische Lag<in Österreich

er von den liberalen deutschen Zeitungen Österreichs seit langem
angekündigte Umschwung in der Stellung der Regierung zu den
Parteien hat sich um wirklich vollzogen, allerdings in wesentlich
andrer Art, als von jenen geweissagt wurde. Weder ist der
Ministerpräsident Graf Tcmffe gestürzt worden, noch hat er sich
mit den Führern der Opposition umgeben; beide sind einander entgegen¬
gekommen und haben versprochen, sich zu vertragen, ruhen zu lassen, was sie
trennt, gemeinsam zu arbeiten. Politiker, die nu dem Glaubenssätze festhalten,
daß die Staatsgeschäfte nur dann gut besorgt werden können, wenn in der
Volksvertretung eine geschlossene Mehrheit besteht und ans ihrer Mitte ein
Ministerium gebildet wird, werden durch den neuen Zustand nicht befriedigt
sein. Aber dreißig Jahre praktischer Politik — ein wahrer dreißigjähriger
Krieg — scheinen endlich wenigstens die Deutsch-Österreicher zu der Einsicht
gebracht zu haben, daß das parlamentarische Regiment Englands uicht schablonen¬
mäßig auf ein Reich mit durchaus andern Verhältnissen übertragen werden
kann. Sage» wir: vorläufig nicht. Denn der Realpolitiker weiß ja, daß große
Ereignisse oder langsame, unmerkliche Wandlungen ganz neue Lagen schaffe»
tonnen, daß morgen ausführbar sein kann, was heute noch unmöglich scheint.
Genug, vor der Hand erklärt sich, soweit wir es zu übersehen vermögen, die
teutschgesinnte Presse einverstanden mit dein Satze, den sie bis vor kurzem
aufs heftigste bekämpfte, nämlich daß sich eine große Partei nichts dadurch
vergebe, wenn sie eine Regierung unterstützt, in der sie uicht vertreten ist,
daß es für sie noch etwas andres geben könne, als entweder Negierimgspartei
oder Opposition zu sein. Das ist ein Gewinn, nicht allein für Österreich.
Wir sind keine Bewunderer der bisherigen Opposition im Neichsrate, stehen


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[0105] [Abbildung] Die parlamentarische Lag<in Österreich er von den liberalen deutschen Zeitungen Österreichs seit langem angekündigte Umschwung in der Stellung der Regierung zu den Parteien hat sich um wirklich vollzogen, allerdings in wesentlich andrer Art, als von jenen geweissagt wurde. Weder ist der Ministerpräsident Graf Tcmffe gestürzt worden, noch hat er sich mit den Führern der Opposition umgeben; beide sind einander entgegen¬ gekommen und haben versprochen, sich zu vertragen, ruhen zu lassen, was sie trennt, gemeinsam zu arbeiten. Politiker, die nu dem Glaubenssätze festhalten, daß die Staatsgeschäfte nur dann gut besorgt werden können, wenn in der Volksvertretung eine geschlossene Mehrheit besteht und ans ihrer Mitte ein Ministerium gebildet wird, werden durch den neuen Zustand nicht befriedigt sein. Aber dreißig Jahre praktischer Politik — ein wahrer dreißigjähriger Krieg — scheinen endlich wenigstens die Deutsch-Österreicher zu der Einsicht gebracht zu haben, daß das parlamentarische Regiment Englands uicht schablonen¬ mäßig auf ein Reich mit durchaus andern Verhältnissen übertragen werden kann. Sage» wir: vorläufig nicht. Denn der Realpolitiker weiß ja, daß große Ereignisse oder langsame, unmerkliche Wandlungen ganz neue Lagen schaffe» tonnen, daß morgen ausführbar sein kann, was heute noch unmöglich scheint. Genug, vor der Hand erklärt sich, soweit wir es zu übersehen vermögen, die teutschgesinnte Presse einverstanden mit dein Satze, den sie bis vor kurzem aufs heftigste bekämpfte, nämlich daß sich eine große Partei nichts dadurch vergebe, wenn sie eine Regierung unterstützt, in der sie uicht vertreten ist, daß es für sie noch etwas andres geben könne, als entweder Negierimgspartei oder Opposition zu sein. Das ist ein Gewinn, nicht allein für Österreich. Wir sind keine Bewunderer der bisherigen Opposition im Neichsrate, stehen Grenzboten III 1891 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/105>, abgerufen am 13.11.2024.