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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit

einander abzuwägen. Die heutigen Parteien sind in einer Zeit entstanden,
wo es sich um politische Fragen im engern Sinne handelte, wie Absolutismus
oder Verfassungsstaat, Zwei- oder Einkammersystem, Preßfreiheit oder Zensur,
und für Deutschland außerdem um die Eiuignngsfrage. Alle diese Fragen
sind gelöst, und vorläufig denkt niemand daran, die Lösungen, so unvoll¬
kommen sie sein mögen, aufs neue in Frage zu stellen. Wir wüßten mir
eine sehr wichtige im engern Sinne politische Frage, die als Krystallisations¬
kraft für eine neue Parteibildung zu gebrauchen wäre, das wäre die Frage,
wie weit die angefangene Wiederherstellung der Selbstverwaltung fortgeführt
werden soll. Es würde sich dann wahrscheinlich zeigen, daß die Selbst¬
verwaltung gerade in den sogenannten konservativen und die büreaukratische
Verwaltung gerade in den sogenannten liberalen Kreisen viele Anhänger zählt.
Für Unzählige bedeutet das Wort liberal weiter nichts als nicht nltramontan
oder nicht orthodox; diesen schwindet nun, ebenso wie der Zentrumspartei, der
Boden nnter den Füßen, sobald sich das öffentliche Leben von den Religions¬
händeln ab und andern Interessen zuwendet. Was die übrigen idealen Inter¬
essen anlangt: Kunst, Wissenschaft, Freiheit, Sittlichkeit, vor allen und über
allen das Vaterland, so giebt es in keiner Partei einen Mann, der sich nicht
für ihren eifrigen Förderer erklärte, demnach braucht für ihre Förderung keine
eigne Partei gegründet zu werden. Wird dennoch von Männern des Prinzips
unter schönklingenden Namen eine Partei des reinen Prinzips gegründet, so
darf man vor ihr auf der Hut sein. Weiß man es doch zur Genüge, was
für eine Art Freiheit z. B. die professivnsmäßigen Beschützer der Freiheit auf¬
richten, wenn sie vorübergehend zur Herrschaft gelangen. Die Freiheit ist
niemals das Werk einer Partei. Nur aus dein Gleichgewicht der Parteien
kann die Freiheit, soweit sie innerhalb der Staatsordnung möglich ist, ent¬
springen, nur bei solchem Gleichgewicht und in der lebhaften Wechselwirkung
aller können die übrigen idealen Güter gedeihen.




Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit

ohann Georg Müller, der jüngere Bruder des Geschichtschreibers
der Schweiz, hat bekanntlich dessen Werke gesammelt heraus¬
gegeben und auch seinen Briefwechsel mit dem Bruder dafür
benutzt. Dieser Briefwechsel empfängt nun soeben eine zwiefache
Ergänzung durch eine Veröffentlichung Eduard Haugs in
Schaffhausen: "Der Briefwechsel der Brüder I. G. Müller und
Joh. v. Müller 1789-1809. Erster Halbbaud. Frauenfeld, I. Zubers


Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit

einander abzuwägen. Die heutigen Parteien sind in einer Zeit entstanden,
wo es sich um politische Fragen im engern Sinne handelte, wie Absolutismus
oder Verfassungsstaat, Zwei- oder Einkammersystem, Preßfreiheit oder Zensur,
und für Deutschland außerdem um die Eiuignngsfrage. Alle diese Fragen
sind gelöst, und vorläufig denkt niemand daran, die Lösungen, so unvoll¬
kommen sie sein mögen, aufs neue in Frage zu stellen. Wir wüßten mir
eine sehr wichtige im engern Sinne politische Frage, die als Krystallisations¬
kraft für eine neue Parteibildung zu gebrauchen wäre, das wäre die Frage,
wie weit die angefangene Wiederherstellung der Selbstverwaltung fortgeführt
werden soll. Es würde sich dann wahrscheinlich zeigen, daß die Selbst¬
verwaltung gerade in den sogenannten konservativen und die büreaukratische
Verwaltung gerade in den sogenannten liberalen Kreisen viele Anhänger zählt.
Für Unzählige bedeutet das Wort liberal weiter nichts als nicht nltramontan
oder nicht orthodox; diesen schwindet nun, ebenso wie der Zentrumspartei, der
Boden nnter den Füßen, sobald sich das öffentliche Leben von den Religions¬
händeln ab und andern Interessen zuwendet. Was die übrigen idealen Inter¬
essen anlangt: Kunst, Wissenschaft, Freiheit, Sittlichkeit, vor allen und über
allen das Vaterland, so giebt es in keiner Partei einen Mann, der sich nicht
für ihren eifrigen Förderer erklärte, demnach braucht für ihre Förderung keine
eigne Partei gegründet zu werden. Wird dennoch von Männern des Prinzips
unter schönklingenden Namen eine Partei des reinen Prinzips gegründet, so
darf man vor ihr auf der Hut sein. Weiß man es doch zur Genüge, was
für eine Art Freiheit z. B. die professivnsmäßigen Beschützer der Freiheit auf¬
richten, wenn sie vorübergehend zur Herrschaft gelangen. Die Freiheit ist
niemals das Werk einer Partei. Nur aus dein Gleichgewicht der Parteien
kann die Freiheit, soweit sie innerhalb der Staatsordnung möglich ist, ent¬
springen, nur bei solchem Gleichgewicht und in der lebhaften Wechselwirkung
aller können die übrigen idealen Güter gedeihen.




Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit

ohann Georg Müller, der jüngere Bruder des Geschichtschreibers
der Schweiz, hat bekanntlich dessen Werke gesammelt heraus¬
gegeben und auch seinen Briefwechsel mit dem Bruder dafür
benutzt. Dieser Briefwechsel empfängt nun soeben eine zwiefache
Ergänzung durch eine Veröffentlichung Eduard Haugs in
Schaffhausen: „Der Briefwechsel der Brüder I. G. Müller und
Joh. v. Müller 1789-1809. Erster Halbbaud. Frauenfeld, I. Zubers


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[0567] Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit einander abzuwägen. Die heutigen Parteien sind in einer Zeit entstanden, wo es sich um politische Fragen im engern Sinne handelte, wie Absolutismus oder Verfassungsstaat, Zwei- oder Einkammersystem, Preßfreiheit oder Zensur, und für Deutschland außerdem um die Eiuignngsfrage. Alle diese Fragen sind gelöst, und vorläufig denkt niemand daran, die Lösungen, so unvoll¬ kommen sie sein mögen, aufs neue in Frage zu stellen. Wir wüßten mir eine sehr wichtige im engern Sinne politische Frage, die als Krystallisations¬ kraft für eine neue Parteibildung zu gebrauchen wäre, das wäre die Frage, wie weit die angefangene Wiederherstellung der Selbstverwaltung fortgeführt werden soll. Es würde sich dann wahrscheinlich zeigen, daß die Selbst¬ verwaltung gerade in den sogenannten konservativen und die büreaukratische Verwaltung gerade in den sogenannten liberalen Kreisen viele Anhänger zählt. Für Unzählige bedeutet das Wort liberal weiter nichts als nicht nltramontan oder nicht orthodox; diesen schwindet nun, ebenso wie der Zentrumspartei, der Boden nnter den Füßen, sobald sich das öffentliche Leben von den Religions¬ händeln ab und andern Interessen zuwendet. Was die übrigen idealen Inter¬ essen anlangt: Kunst, Wissenschaft, Freiheit, Sittlichkeit, vor allen und über allen das Vaterland, so giebt es in keiner Partei einen Mann, der sich nicht für ihren eifrigen Förderer erklärte, demnach braucht für ihre Förderung keine eigne Partei gegründet zu werden. Wird dennoch von Männern des Prinzips unter schönklingenden Namen eine Partei des reinen Prinzips gegründet, so darf man vor ihr auf der Hut sein. Weiß man es doch zur Genüge, was für eine Art Freiheit z. B. die professivnsmäßigen Beschützer der Freiheit auf¬ richten, wenn sie vorübergehend zur Herrschaft gelangen. Die Freiheit ist niemals das Werk einer Partei. Nur aus dein Gleichgewicht der Parteien kann die Freiheit, soweit sie innerhalb der Staatsordnung möglich ist, ent¬ springen, nur bei solchem Gleichgewicht und in der lebhaften Wechselwirkung aller können die übrigen idealen Güter gedeihen. Schweizer Briefe aus der Revolutionszeit ohann Georg Müller, der jüngere Bruder des Geschichtschreibers der Schweiz, hat bekanntlich dessen Werke gesammelt heraus¬ gegeben und auch seinen Briefwechsel mit dem Bruder dafür benutzt. Dieser Briefwechsel empfängt nun soeben eine zwiefache Ergänzung durch eine Veröffentlichung Eduard Haugs in Schaffhausen: „Der Briefwechsel der Brüder I. G. Müller und Joh. v. Müller 1789-1809. Erster Halbbaud. Frauenfeld, I. Zubers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/567>, abgerufen am 04.07.2024.